Nur mit dir sind wir eine Familie
ich jetzt“, murmelte sie und schaute ihn an.
„Gern geschehen.“ Er veränderte seine Sitzposition so, dass er ihr in die Augen blicken konnte. Er sah sie so intensiv an, dass Charlotte für einen Augenblick die Welt um sich herum vergaß. Die alte Verbindung zwischen ihnen war noch immer da – etwas angeschlagen vielleicht, aber noch nicht zerrissen.
Sean schien das ähnlich zu empfinden, denn fast wie in Zeitlupe beugte er sich vor und küsste sie so innig, dass es ihr den Atem verschlug.
„Wir sollten langsam reingehen“, sagte Marta mit einem tadelnden Unterton in der Stimme.
„Sie haben völlig recht“, stimmte Sean zu und drückte ein letztes Mal Charlottes Hand. „Sind Sie bereit, Ihrer Tochter gegenüberzutreten, Mrs Fagan?“
„Wenn Sie es auch sind, ja, Mr Fagan.“
„Na, dann mal los.“
Sie folgten Marta durch eine schwere geschnitzte Holztür in einen kleinen, überheizten Vorraum, an dessen Empfangstresen eine gut gekleidete junge Frau saß. Nachdem sie die Besucher lächelnd begrüßt hatte, wechselte sie auf Russisch ein paar Worte mit Marta, nahm dann den Telefonhörer ab, drückte ein paar Knöpfe und sprach mit jemandem am anderen Ende der Leitung.
Charlotte stand die ganze Zeit dicht neben Sean. Ihr Herz klopfte so heftig, dass sie froh über seinen Arm um ihre Schultern war. Die Empfangsdame schwieg einen Moment, musterte sie kritisch, sagte wieder etwas und legte anschließend den Hörer auf. Mit ein paar an Marta gerichteten Worten wies sie auf eine Tür zu ihrer Linken.
„Madame Zhirkova wird sofort bei uns sein“, übersetzte Marta.
Sie wurden in einen weiteren überheizten Raum geführt, der mit verschiedenen Polsterstühlen und einem alten, aber bequemen Sofa ausgestattet war. Nachdem die Empfangsdame die Tür hinter ihnen geschlossen hatte, senkte sich ein Schweigen über den Raum.
Charlotte hatte keine Ahnung von Waisenhäusern. Dieses hier war jedoch viel nüchterner und einschüchternder als der gemütliche kleine, von Kinderstimmen erfüllte Zufluchtsort, den sie sich in ihrer Fantasie vorgestellt hatte.
„Soll ich dir den Mantel abnehmen?“, bot Sean an.
„Ja, danke.“
Ihre Stimmen hallten in dem kleinen Raum unnatürlich laut wider. Nachdem sie sich nebeneinander auf das kleine Sofa gesetzt hatten, spürte Charlotte erneut die schon vertraute Nervosität in sich aufsteigen. Hoffentlich gelang es ihr, Madame Zhirkova gegenüber einen beherrschten und selbstsicheren Eindruck zu machen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit öffnete sich eine Tür, und eine groß gewachsene, ältere Frau trat ein. Sie trug ein teures braunes Wollkostüm, kniehohe Lederstiefel und um den Hals mehrere auffällige Goldketten. Ihre Frisur war praktisch kurz, aber modern, und trotz ihres strengen Mundes hatte sie eine intelligente und positive Ausstrahlung.
„Ha-lo“, brachte sie mühsam auf Englisch hervor. Ihre Stimme klang tief und autoritär, aber nicht unfreundlich. Ernst schüttelte sie erst Sean, dann Charlotte die Hand.
Nach der Begrüßung stellte Marta der Leiterin des Waisenhauses ihre beiden Schützlinge rasch auf Russisch vor. Sean und Charlotte erklärte sie, dass Madame Zhirkova bis auf ihr gut gemeintes „Hallo“ kein Englisch sprach.
Die Heimleiterin führte sie in ihr Büro, das genau wie die anderen Räume schrecklich überheizt war. Zwei Fenster boten einen Ausblick auf den verschneiten, von einer Mauer umgebenen Garten.
Sean und Charlotte nahmen vor dem Schreibtisch Platz, während Marta ein Stück abseits stehen blieb. Madame Zhirkova setzte sich steif in ihren Schreibtischsessel, warf einen flüchtigen Blick auf die Unterlagen vor ihr, musterte Sean und Charlotte kurz und richtete dann ein paar Worte an Marta.
„Madame Zhirkova sagt, dass sie sich sehr freut, Sie beide kennenzulernen, Mr und Mrs Fagan. Besonders glücklich ist sie darüber, dass Sie hierhergekommen sind, um eins der unter ihrer Obhut stehenden Kinder zu adoptieren. Sie glaubt, das Mädchen, das sie für Sie ausgewählt hat, wird sehr gut zu Ihnen passen.“
Zu Charlottes Erleichterung ergriff Sean als Erster das Wort. „Wir freuen uns auch, hier zu sein“, sagte er. „Und wir können es kaum erwarten, Katya kennenzulernen.“
Ein weiterer Wortwechsel zwischen Marta und Madame Zhirkova folgte. Danach versicherte Marta ihnen, dass sie Katya bald treffen würden. Zuvor mussten sie jedoch besprechen, wie die Bindung zwischen den Adoptiveltern und dem Kind hergestellt werden
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