Nur mit dir sind wir eine Familie
knappen halben Stunde war Sean geduscht und angezogen. Charlotte hatte in der Zwischenzeit ihre Kleidung in der Kommode und im Kleiderschrank verstaut und ein paar persönliche Dinge im Raum verteilt, um ihn etwas behaglicher zu machen. Tatsächlich hatte die körperliche Arbeit sie wieder ein wenig munterer gemacht.
Am liebsten hätte sie jetzt erst mal ein ausgiebiges Bad genommen, doch dazu war sie zu hungrig. Nachdem sie geduscht hatte, streifte sie sich eine Jeans und einen Pullover über und gesellte sich zu Sean, der im Wohnzimmer saß und E-Mails schrieb. „Ich hoffe, zu Hause und im Büro ist alles in Ordnung?“, fragte sie, während sie ihm ohne nachzudenken eine Hand auf die Schulter legte.
„Ja, alles in Ordnung“, versicherte Sean ihr. „Ich schreibe unseren Freunden und Bekannten gerade, dass wir gut angekommen sind.“ Lächelnd sah er zu ihr hoch und drückte die Hand, die auf seiner Schulter lag. „Wollen wir jetzt ins Restaurant?“
„Ja, bitte.“
„Was hältst du davon, wenn wir die Hotelküche testen? Die Restaurants in der Umgebung können wir ausprobieren, sobald wir nicht mehr so müde sind.“
„Klingt gut. Zu mehr als einer Fahrt mit dem Fahrstuhl reicht meine Energie heute sowieso nicht.“
„Kann ich gut nachvollziehen. Ich fühle mich auch ziemlich erledigt“, gestand Sean, klappte seinen Laptop zu und stand langsam auf. „Aber glaub mir, wenn wir es jetzt schaffen, noch ein paar Stunden wachzubleiben, haben wir eine gute Chance, unseren Jetlag in zwei Tagen zu überwinden.“
„Klar glaube ich dir.“ Seit ihrem Gespräch am Flughafen in New Orleans empfand Charlotte eine solche Nähe zu ihm, dass sie spontan die Arme um seinen Hals schlang.
Nach kurzem Zögern presste Sean sie fest an sich. „Ich werde dich nicht im Stich lassen, Charlotte“, murmelte er. „Niemals.“
„Ich weiß, Sean … ich weiß.“
Da es noch relativ früh war, als Charlotte und Sean im Restaurant ankamen, waren nur wenige Gäste im Speisesaal. Sie wurden an einen der Tische in der Nähe des Kamins geführt. Glücklicherweise war die Speisekarte in mehreren Sprachen abgedruckt, was ihnen ihre Bestellung erleichterte. Sie entschieden sich für Brathähnchen mit Kartoffeln und Gemüse und bestellten zum Nachtisch ein Stück Schokoladencremetorte.
Pünktlich um acht wurde es voll, und schon bald war der Raum von ausländischen Gesprächen erfüllt. Sean und Charlotte bedankten sich bei ihrem Kellner und kehrten in ihre Suite zurück. Im Fahrstuhl beging Charlotte den Fehler, sich gegen die Wand zu lehnen und die Augen zu schließen. Hätte Sean sie im fünften Stock nicht aufgeweckt, hätte sie vermutlich die Nacht im Stehen verbracht.
Nur mit seiner Hilfe schaffte sie es, sich ihren neuen Flanellpyjama anzuziehen und sich ins Bett zu legen. Als sie endlich unter mehreren Schichten warmer Decken lag, spürte sie, wie Sean sie näher an sich zog und die Arme um sie schlang. Ihr letzter Gedanke vor dem Einschlafen war, wie gut es tat, endlich wieder in seinen Armen zu liegen.
Sie schliefen so tief und fest, dass Charlotte am nächsten Morgen den Eindruck hatte, gerade erst eingeschlafen zu sein. Als Sean sie sanft wachrüttelte, blinzelte sie benommen. Er hatte bereits geduscht und war rasiert und angezogen. „Wie spät ist es?“, fragte sie schläfrig. Draußen war es noch dunkel. Ihrem Gefühl nach war es noch mitten in der Nacht.
„Fast acht Uhr“, antwortete er.
„Was? Dann habe ich ja länger als zwölf Stunden geschlafen!“
„Ich hätte dich gern noch länger schlafen lassen, aber wir sind in anderthalb Stunden mit Marta in der Lobby verabredet“, erklärte er. „Und wir sollten vorher frühstücken. Wer weiß, wann wir das nächste Mal etwas zu essen bekommen.“
Charlotte war noch immer so schlaftrunken, dass ihr nur langsam wieder einfiel, warum sie überhaupt hier war. Schon in zwei Stunden würden sie die Leiterin des Waisenhauses treffen … und vielleicht sogar die kleine Katie sehen.
Mit klopfendem Herzen richtete sie sich im Bett auf. Sie hatte so lange auf diesen Tag gewartet und war so weit gereist, um ihn zu erleben. Die Vorstellung, ihr kleines Mädchen möglicherweise schon bald in den Armen halten zu dürfen, kam ihr fast irreal vor.
„Sean?“, sagte sie mit zitternder Stimme und griff nach seiner Hand. „Ich habe Angst.“
„Wieso denn?“, fragte er sanft. „Die kasachische Regierung hält uns für geeignete Adoptiveltern. Die Leiterin des
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