Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Nur Mut: Roman

Nur Mut: Roman

Titel: Nur Mut: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Bovenschen
Vom Netzwerk:
habt ihr irgendwelche Wünsche?«
    »Ja«, sagte Johanna, bevor sie weitersprach, brachte sie sich in eine aufrechte Sitzposition, »Janina hat da irgendwo eine Flasche Grappa rumstehen, die kannst du mir mitbringen.«
    »Um diese Uhrzeit?«
    Leonie war verwundert. Dann zuckte sie mit den Achseln. »Warum eigentlich nicht? Also keinen Kaffee.«
    Nach einer kurzen Pause sagte sie:
    »Eigentlich will ich auch keinen Kaffee. Heute lassen wir die Regeln sterben. Ich hätte Lust auf einen guten Rotwein.«
    Sie wandte sich an Nadine: »Und für dich? Noch einen Tee?«
    Auf Nadines Gesicht zeichneten sich rote Flecken ab.
    »Ich will auch Rotwein«, rief sie. »Oder nein, warte« – sie ballte die Fäuste in Brusthöhe wie ein aufgeregtes kleines Mädchen vor einer Mutprobe –, »bring uns Champagner. Ja, Mädels, lasst uns Champagner trinken.«
    Ihr Ausruf irrlichterte zwischen Kampfansage und Hysterie.
    Johanna lachte. »Ich bleibe bei Grappa. Ich brauche starken Stoff.«
    Leonie wollte sich nicht mehr wundern und verließ den Salon, bereit, die gewünschten Alkoholika auf einem Servierwagen zu versammeln.
    Zweifellos: Es war die Zeit starker Umschwünge. Die Stimmen wurden schriller, die Gesten fahriger.
    Hätten sie weiterhin darauf geachtet, so hätten sie bemerken können, dass auch die Töne, die aus der Bibliothek drangen, lauter und härter geworden waren.
    Zu den Umschwüngen gehörte Nadines wachsende Zutraulichkeit. Die Scheu, die sie die letzten Jahre in der Gegenwart von Johanna empfunden hatte – wie vor einem fremdartigen Geschöpf mit unwägbaren Reaktionen –, hatte sich verflüchtigt. Die besondere Angst, die sie seit ihrem Arztbesuch beherrschte, blamierte solche – lebensbegleitenden – Ängstlichkeiten. Nein, vor einem Menschen – wie sonderbar und unnahbar er erscheinen mochte – musste sie keine Scheu mehr haben, da kannte sie Schlimmeres.
    Als hätte Johanna diese neue Zutraulichkeit erspürt: »Bin im Grunde herzensgut«, sagte sie. Und in Nadines Erstaunen erklärte sie: »Das singt Ritter Blaubart in der deutschsprachigen Version der Offenbach’schen Operette, nachdem er acht Frauen ermordet hat.«
    Nadine lachte. Und das war doch auch schon etwas.
    Sie legte ihre Hand auf Johannas Unterarm.
    »Als hätte sich ein Schalter in mir umgelegt, nach dem heutigen Arztbesuch. Ich sehe alles mit neuen Augen. Und die Welt hat fremde Kleider. Es ist phantastisch und hyperreal zugleich. Berauschend wäre diese neue Schau auf jedes und alles, wenn ich auch mein Leben neu beginnen könnte. Ein Alb ist sie, wenn sie sich zur Zeit des Abschieds aufdrängt. (Man weiß ja nicht einmal mehr, wovon man sich verabschiedet.)«
    Bevor sie weitersprach, studierte sie Johannas Gesicht, ob sich nicht ein ironischer Zug darin fände. Aber da war nur Interesse.
    »Manchmal lähmt mich eine gewalttätige Apathie, und schon im nächsten Moment bin ich nur noch Alarm. Ich war ein Leben lang perfekt im Ausblenden von Bedrohlichkeiten jeder Art. Bitte kein Vulkanausbruch zu meinen Lebzeiten! Bitte erspart mir die Nachricht davon! Ich war eine idiotische Priesterin des positiven Denkens. Ich hatte meine intellektuelle Sehkraft um fünfzig Prozent gesenkt.«
    »Geht das?«, fragte Johanna.
    »Ja, das geht.
    Wenn die horriblen Nachrichten unüberhörbar wurden, wusste ich sie abzuwehren, indem ich mich zur Verächterin des Krisengeschwätzes aufplusterte: Bitte erspart mir die Rede von der Klimakrise, der Finanzkrise, der Wirtschaftskrise, der Energiekrise – bleibt mir vom Leibe mit alldem.
    So viele Katastrophen wurden in Aussicht gestellt. Jetzt kommen nahezu täglich neue ins Geschwätz. Habt ihr nicht vorhin von Cyberkriegen gesprochen? Ich tue sie zu den anderen, den Religionskriegen, den Kriegen ums Wasser, den Kriegen ums Öl, ach, du liebe Güte, da sind ja auch noch die modernen Völkerwanderungen und die Hungersnöte und nicht zuletzt die atomare Gefahr …
    Jede Warnung und jede Katastrophe hatte ein Mediengeschwätz auf den Fersen, jeder Krise folgte dieses unerträgliche Geschwätz, jede Katastrophe fern und nah zeitigte dieses Geschwätz. Das machte es mir leicht. Die Intervalle zwischen den Meldungen wurden immer kürzer. Aber sie waren ebenso schnell vergessen. Weißt du, das war immer so ein Rhythmus: Alarm – Geschwätz – Amnesie. Ein übler Dreisprung. Das, so glaubte ich, gäbe mir ein Recht auf Ignoranz.
    Schließlich rangierte der bedrohliche Atompilz einträchtig neben dem bedrohten

Weitere Kostenlose Bücher