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Nur Mut: Roman

Nur Mut: Roman

Titel: Nur Mut: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silvia Bovenschen
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sobald sie sich nicht scharf kontrollieren konnte, hatte sie überall Vulkane gesehen. (So wie gerade jetzt wieder.)
    Fiel ihr Blick – aber das war doch lächerlich! – auf eine harmlose dörfliche Kirchturmspitze, war sie sicher, dass aus ihr schon im nächsten Augenblick das glühgiftige Erdinnere machtvoll hervorquellen würde. Wie in einem zu schnell laufenden Film glaubte sie sehen zu können, wie sich verzweigende rotgoldene Glutströme todbringend über alles ergössen und die menschlichen Leiber für immer erstarren ließen. Aschefigurinen in einer banalen Geste zu ewiger Unbeweglichkeit verdammt.
    Diese zwanghafte Ausrichtung ihrer bösen Schlaf- und Wachträume musste nicht verwundern. Ihr Vater, ein Geologe, war 1951 bei dem Ausbruch des Vulkans Lemington mit etwa dreitausend anderen ums Leben gekommen. Da war Nadine zehn Jahre alt gewesen und hatte Mühe gehabt, sich diese Ungeheuerlichkeit ins Bewusstsein zu holen. Unter einem Vulkanausbruch konnte sie sich zunächst nicht viel vorstellen. Die Erklärungen der Erwachsenen waren sehr abstrakt gewesen. Ein Berg war explodiert. So hatte sie sich das veranschaulicht. Knall und Schall, Donner und Blitz, ja sogar ein lauter, unerwarteter Ton, ein explosiv hervorgestoßenes Wort, all das hatte sie fortan erschreckt.
    Aber erst ein paar Jahre später, als sie in einem Buch über die Ausgrabungen von Pompeij und Herculanum die Abbildungen der in einer alltäglichen Bewegung fixierten Menschenleiber gesehen hatte, war sie der wahren Natur des Grauens näher gekommen.
    Daraufhin war sie, einer therapeutischen Verordnung folgend, dorthin gereist und hatte die Fundorte besichtigt. Sie hatte diese Reise mit Mühe, aber auch mit Haltung überstanden.
    Ins Pathologische hatten sich ihre Ängste erst gesteigert, als sie erfuhr, welche Überraschung der Ausbruch des Lemington im Jahr 1951 gewesen war. Niemand, auch die Fachleute nicht, hatte in dem Berg bis dato einen Vulkan vermutet. (Aber warum hatte ihr Vater sich dort herumgetrieben? Hatte er eine Vorahnung? Oder ein einsames Wissen?)
    Da kann ja jeder Hügel todbringend sein, hatte sie gedacht. Und von dieser fixen Idee – wenn es denn eine war – konnten sie auch gelehrte Einwände nicht mehr abbringen.
    Die inneren Bilder von einer explosiven Natur waren immer bedrohlicher geworden.
    In dieser Not hatte sie selbstverordnet ihr Heil in der Antinatur der Modewelt gesucht und weitgehend gefunden, in deren Künstlichkeit, allein den Gesetzen des Zeitenwandels unterworfen. Das galt für die Dauer ihrer Berufstätigkeit und noch lange darüber hinaus. Zwar hatte sie sich weiterhin vor den Gewittern gefürchtet, war an Silvester mit Ohrstöpseln um 22 Uhr ins Bett gegangen – nicht ohne zuvor noch ein starkes Schlafmittel eingenommen zu haben – und hatte auch die Feuerwerke zu anderen Gelegenheiten gemieden, aber im großen Ganzen hatten sich ihre Ängste in den letzten Jahrzehnten auf ein alltagstaugliches Maß verringert.
    Bis zu diesem Rückfall, jetzt, da die Vulkane in ihr selbst ausbrachen.

V
    Salon (17 Uhr 21)
    Johannas unheilvolle Verheißung hatte sich wie eine schwarze Glocke über die alten Frauen gesenkt und ließ sie schweigen und lauschen auf die Geräusche im Nebenraum.
    Salon und Bibliothek waren ursprünglich mit einer großen Flügeltür verbunden gewesen. Diese Tür war vor einigen Jahren entfernt worden, und man hatte die Öffnung mit einer hölzernen Platte geschlossen, um auf der Bibliotheksseite etliche Regalmeter für die sich stetig mehrenden Bücher zu gewinnen. Das erklärte die Hellhörigkeit.
    Und so hörten sie, nachdem Charlotte den Besucher in die Bibliothek geführt hatte, gedämpft, wie Stühle gerückt wurden, und bald darauf drang auch das Gemurmel der Unterredung zu ihnen. Aber so angestrengt sie auch lauschten, die einzelnen Worte konnten sie nicht verstehen. Bald gaben sie es auf und sanken matt zurück in sich selbst.
    Getragen von dem schwachen Auf und Ab des benachbarten Gemurmels, schaukelten sie sich – schläfrig und überspannt zugleich – in allerlei Befürchtungen hinein, die aber bis auf Nadines imaginäre Vulkanausbrüche dunkel und nebelhaft blieben. Wie ängstliche Tiere hatten sie sich – verlassen von ihrer Leitfigur – in die mächtigen Sessel verkrochen.
    Es war mehr als eine Viertelstunde so vergangen, als sich Leonie aus dem umwölkten Dämmerzustand löste. Sie stand auf und sagte resolut:
    »Ich gehe in die Küche und mache mir noch einen Kaffee,

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