Nur noch diese Nacht
Kerlchen zeigte, dass sie ihm aufmerksam zuhörte. Ihre ganze Art bewies, wie sehr sie am Leben der Familie Anteil nahm, und er fragte sich, was diese Menschen ihr bedeuten mochten. Und ob Claire weiter so tun würde, als sei er nicht da. Warum machte sie ihn nicht mit ihren Freunden bekannt?
Claire stand auf und folgte dem Kleinen zur Tür. „Gut, Corbin. Lass uns ins Atelier gehen und nachsehen.“
Atelier? War der Kleine ein Wunderkind? Ein neu entdecktes Genie?
Nervös blickte Jane zu ihm herüber und schüttelte den Kopf. „Ich möchte euch beide wirklich nicht stören …“
Claire wandte sich Ryan mit einem etwas angestrengten Lächeln zu und erklärte Jane dann: „Du störst bei gar nichts. Glaube mir, Jane, du störst wirklich nicht.“
Am liebsten hätte Ryan laut gelacht.
Du bist eine miserable Lügnerin, Claire. Sie konnte sich noch nie gut verstellen.
„Ich heiße Ryan“, stellte er sich nun selbst vor, reichte der Frau die Hand und konnte sich einen Seitenhieb auf Claire nicht verkneifen. „Ich bin gar nichts. Nur Ryan.“
Jane lachte amüsiert, und Corbin schnitt ungeduldig ein Gesicht. „Komm, Claire.“
Nur zu gern gab sie seinem Drängen nach. Sie gingen einen Gang entlang zu einem Raum, den Ryan bereits bei der Führung durch die Galerie gesehen hatte – ein hell erleuchtetes Atelier voller Kinderstaffeleien, Wäscheleinen mit aufgehängten Bildern und an den Wänden aufgestapelten Farbpaletten.
Zielstrebig steuerte Corbin auf ein Regal zu, aus dem er sein neustes Meisterwerk nahm, um es stolz zur Begutachtung hochzuhalten.
Claire ging in die Hocke und sprach ruhig mit ihm über Farben und Bildaufbau. Der Junge mochte höchstens sieben Jahre alt sein, doch er nickte bei jedem Hinweis verständig und vergewisserte sich, dass seine Mutter alles mitbekam. Dann merkte er, dass Ryan nicht richtig zuhörte. Prompt schlenderte der Kleine zu ihm, um ihm sein Werk in die Hand zu drücken.
„Das ist der blaue Park hinter meinem Haus.“
„Sehr hübsch.“ Da gab es reichlich viel Blau. Und erstaunlich viele Einzelheiten, die das Gemalte als Park auswiesen. Das Bild würde es sicher trotzdem nicht so schnell in ein Museum schaffen.
„Siehst du den Sandkasten?“
Ryan dämmerte, dass eine flüchtige Begutachtung des Bildes wohl nicht genügte. Der Junge war so stolz darauf. Warum sollte er sich also nicht etwas ausführlicher damit beschäftigen?
Ryan ging in die Hocke, wie er es bei Claire gesehen hatte, und sah sich das Werk genauer an, benannte so viele Einzelheiten, wie er entdecken konnte, stellte dem Kind Fragen und erwärmte sich zunehmend für seine Rolle als Begutachter.
Schließlich lachte er mit dem lebhaften Jungen, dessen Überschwang und Begeisterung er einfach nicht widerstehen konnte.
Es war komisch. Ryan hatte Kinder immer gemocht, sich gewünscht, eines Tages eine große Familie zu haben. Doch dann war alles anders gekommen. Und nachdem Claire gegangen war, hatte er entschieden, nicht wie so viele um ihn herum eine Familie zu gründen, sondern darauf zu verzichten. Das war ihm nicht schwergefallen. Er lebte für seine Arbeit, die ihn völlig ausfüllte. Auch die Menschen, mit denen er zusammenkam, arbeiteten viel. Mit ihnen verbanden ihn berufliche Interessen. Und da er ein Einzelkind war, hatte er auch keine Nichten oder Neffen, mit denen er spielen musste. Also hatte er sich vor Situationen wie dieser bisher erfolgreich gedrückt.
Bei Claire schien das anders zu sein. Obwohl sie nach der Fehlgeburt am Boden zerstört gewesen war, gab es in ihrem Herzen und ihrem neuen Leben offensichtlich viel Platz für Kinder, wenn es auch nicht die eigenen waren.
Ihre eigenen.
Ryan schluckte und blickte auf den Jungen, der sich an ihn gelehnt hatte. Erst jetzt fiel ihm sein dunkles glattes Haar auf, die leuchtend blauen Augen. Ob Andrew so ausgesehen hätte? Wäre ihr Kind auch so voll überschäumender Energie gewesen und hätte Mühe gehabt, still zu stehen? Hätte es Bilder für seine Mutter gemalt, die ihn sich so sehr gewünscht hatte, und seinem Daddy von der Busfahrt zur Schule berichtet oder von einem Käfer, der sich in die Bibliothek verirrt hatte?
Auf einmal spürte Ryan es wieder. Das Federgewicht in seiner Hand, dass das Ende von allem bedeutet hatte, was er geliebt und ersehnt hatte. Sein Baby, so winzig, so jung … das nie eine Chance gehabt hatte …
Sekundenlang war der Schmerz über den Verlust so frisch, so bohrend, dass es Ryan fast das Herz
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