Nur wenn du mich hältst (German Edition)
hast.“
Sie fanden die Jungen an der künstlich errichteten Schanze, wo sie abwechselnd Tricks übten.
„Guck mal!“, rief AJ, als er sie sah. Unter den anfeuernden Rufen seiner neuen Freunde glitt er durch die Halfpipe, wobei er mehrmals hinfiel, aber auch ein paar sehr schöne, scharfe Drehungen schaffte. Die Landung war ein wenig wackelig, doch er stand.
Bo verspürte einen verrückten Stolz. „Das ist mein Junge“, sagte er.
„Ja, das ist er“, stimmte Kim zu.
„Jetzt bin ich dran.“ Bevor er den Mut verlor, rutschte er an die Kante und blieb dort stehen.
„Trau dich“, rief AJ, und seine Stimme hallte in der Röhre wider. „Komm, du schaffst das.“
Bo atmete tief ein und schaute zu, wie Kim es vormachte. Bei ihr sah es so unangestrengt aus, als würde es unglaublichen Spaß machen, von einer Seite des u-förmigen Grabens zur anderen zu gleiten. Für ihn gab es kaum etwas Attraktiveres als Frauen, die einen Sport beherrschten. Während seiner Jugend hatte er sich immer in Sportlerinnen verliebt – Gabriela Sabatini, Jackie Joyner-Kersee. Kim gehörte ohne Zweifel in diesen Klub, weil sie keine Angst hatte und gut in dem war, was sie tat. Und am besten war, dass sie nah genug war, dass er sie tatsächlich berühren konnte.
Nach einem weiteren tiefen Atemzug drückte er sich am Rand ab und glitt die steile Wand hinunter. Sofort erkannte er, dass er sich verkalkuliert hatte. Anstatt die eine Seite runter- und die andere wieder raufzurutschen, fuhr er auf die Mitte der Halfpipe zu und nahm dabei an Fahrt auf. Wie aus weiter Ferne hörte er Rufe, doch er verstand die Worte nicht.
Er wurde schneller, als er es je ohne Verbrennungsmotor unterm Hintern gewesen war. Wenn er jetzt stürzte, würde er sich jeden Knochen im Leib brechen. Er musste einen Weg finden, das Tempo zu drosseln. In seiner Verzweiflung versuchte er die Verlagerung des Körpergewichts, die Kim ihm gezeigt hatte, und erstaunlicherweise drehte er sich und lenkte seine unbarmherzige Abwärtsfahrt um. Nun fuhr er die steile Seite der Halfpipe hinauf, die ihn langsamer werden lassen würde wie die Ausweichzonen für LKW an den Highways.
Nur dass es so nicht funktionierte. Verrückterweise sorgte die Zentrifugalkraft dafür, dass er erneut an Geschwindigkeit zulegte und dabei gegen so viele physikalische Gesetze verstieß, dass man ihn eigentlich hätte verhaften müssen.
Er hörte die aufbrandenden Stimmen, als er den oberen Rand der Pipe erreichte, sah einen Flecken Blau und Weiß, den Himmel und den Schnee, und fühlte unter sich gar nichts. Er war schwerelos. Er flog. Er stieg in den Horizont auf.
Okay, dachte er. Das ist jetzt der Teil, wo ich aufwache und erkenne, dass alles nur ein Traum ist . Stattdessen fiel er wie ein angeschossener Vogel aus Furcht einflößender Höhe auf die Erde.
Um ihn herum stob der Schnee auf.
Einen Moment später waren AJ, Kim und die beiden Jungen bei ihm.
„Geht es dir gut?“, wollte AJ wissen. Besorgnis lag in seiner Stimme. „Dad! Alles okay mit dir?“
Ein paar Sekunden lag Bo ganz still da. Er war nicht verletzt, sondern genoss es, dass AJ ihn Dad genannt hatte.
„Hey, Dad.“ AJ stieß ihn an. „Bist du okay?“
„Ja.“ Er grinste. „Alles super.“
„Cool.“ AJ erwiderte das Grinsen. „Du warst einmalig.“
Bo wischte sich den Schnee von der Brille und schaute Kim an. „Kann ich jetzt endlich reingehen, Coach?“
„Ich helfe dir, aufzustehen.“ AJ hielt ihm eine Hand hin.
Das war neu. Wegen seines Sohnes hatte er etwas getan, das weit außerhalb seiner Komfortzone lag. Ihm kam ein überraschender Gedanke – so etwas taten Väter jeden Tag. Er hatte das nie selbst erlebt. Seine Vorstellung von einem Vater gründete sich nicht auf dem, was er wusste, sondern auf dem, was ihm immer gefehlt hatte.
Doch alles, was er wissen musste, erfuhr er von AJ. Es war egal, dass er sich beinahe umgebracht hatte, dass er halb erfroren in einer Schneewehe saß. Es war egal, dass er sich danach sehnte, endlich ins Warme zu kommen, am Feuer zu sitzen und ein Bier zu trinken. Er schaute AJ an und dachte: Dieses Lächeln ist die Mühe wert.
21. KAPITEL
Nach dem Essen ging Kim ins Wohnzimmer und fand Bo vor dem Kamin sitzen, die Arme hinter dem Kopf verschränkt und ein breites, leicht schläfriges Grinsen im Gesicht. Er hatte sie noch nicht bemerkt, und als sie ihn so beobachtete, wallte die Lust in ihr auf.
Ich bin so eine Idiotin, dachte sie, konnte die Wahrheit aber nicht leugnen.
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