Nur wenn du mich hältst (German Edition)
mit Worten zu bezirzen. Tatsächlich konnte er ihm keinen Vorwurf machen, dass er unglücklich und misstrauisch war. So wie Yolanda ihm die Situation vermutlich beschrieben hatte, war es kein Wunder, dass der Junge ihm nicht vertraute. Um ihr eigenes Gewissen zu beruhigen oder vielleicht auch, um ihren heutigen Exmann zu beschwichtigen, hatte sie AJ glauben lassen, dass sein biologischer Vater keinerlei Interesse daran hatte, ihn kennenzulernen, und dass er die Geschenke und monatlichen Schecks nur aus Schuldgefühl schickte. Sie hatte ihn als Baseballspieler dargestellt, der ständig Halligalli machte und keine Verantwortung übernehmen wollte. Worin durchaus ein Körnchen Wahrheit steckte. Er war ein Baseballspieler. Wenn zu trinken und regelmäßig flachgelegt zu werden bedeutete, Halligalli zu machen, dann traf das auf ihn zu. Was sie jedoch ausließ, war die Tatsache, dass er bis vor wenigen Monaten kaum einen Cent mit dem Baseballspielen verdient hatte. Die Schecks, die sie erhalten hatte, waren oft sein Essensgeld für die gesamte Woche gewesen. Doch nie wäre er auf die Idee gekommen, einmal mit der Zahlung auszusetzen und seinen Sohn im Stich zu lassen. Bo erinnerte sich nur zu gut daran, wie Armut sich anfühlte. Dieses Erlebnis wünschte er keinem Kind.
Ohne Zweifel trug die Vorstellung, auf eine neue Schule zu gehen, zu AJs missmutiger Stimmung bei. Bo sagte jedoch nichts und ließ sich von seinem Schweigen nicht stören. In Anbetracht dessen, was der Junge durchgemacht hatte, ging es ihm inzwischen richtig gut.
Sie bogen auf die frisch geräumte Hauptstraße ein, die zum belebten Marktplatz mit den Läden und Restaurants in historischen Backsteingebäuden führte. Ein paar Straßen weiter hatten sie ihr Ziel erreicht – die Avalon Middle School. In dem Augenblick, in dem der Z4 auf den Besucherparkplatz fuhr, hatte Bo das Gefühl, sämtliche Luft wäre aus dem Inneren des Autos gesaugt worden, so stark und greifbar war die Anspannung.
„Es wird …“ Er hielt inne und sammelte sich. Es hatte keinen Sinn, den Jungen mit Plattitüden abzuspeisen. „Hör mal, wie haben keine andere Wahl. Das Beste, was du für deine Mutter tun kannst, ist, die Stellung zu halten. Und dazu gehört, zur Schule zu gehen …“
AJ atmete tief ein, wie ein Schwimmer, der in kaltes Wasser springen wollte, und stieg aus. Am Haupteingang meldete Bo sie durch die Gegensprechanlage an, kurz darauf ertönte der Summer, und sie traten ein. Ein Schild zeigte an, dass das Büro sich den Flur hinunter befand. Es war ein langer, menschenleerer Korridor, an dessen einer Wand lauter Spinde standen. Die andere war mit Bannern und Ankündigungen tapeziert. Ein Flyer kündigte ein Broomball-Turnier an – eine Sportart, die AJ vermutlich so fremd war wie japanisches Kabuki-Theater. Die Türen der Klassenzimmer waren geschlossen, doch er bemerkte AJs nervöse Blicke, die zu den kleinen Fenstern darin huschten, als versuche er, einen Eindruck von seinen zukünftigen Mitschülern zu bekommen.
AJ beschleunigte seine Schritte. Er schien diesen Flur so schnell wie möglich verlassen zu wollen. Sein Instinkt erwies sich als korrekt. Wenige Sekunden später schrillte die Pausenglocke. Verdammt . Bo hatte dieses nervtötende Geräusch längst vergessen, AJ anscheinend nicht, denn er schob die Hände in die Hosentaschen und versuchte, sich in seinen Parka zurückzuziehen wie eine Schildkröte in ihren Panzer. Die Fluttore wurden geöffnet, und Schüler strömten aus den Klassenräumen.
Noch etwas, das er vergessen hatte – wie unglaublich laut Kinder waren. Es wurde geschrien und gelacht, dazu das Trampeln der Füße. Ein paar wichen ihm im großen Bogen aus, schließlich war er ein Erwachsener. Ein Eindringling. Einige Schüler bemerkten AJ, doch die meisten schauten einfach durch ihn hindurch. Während Bo sie so beobachtete, fiel ihm auf, dass Vielfalt nicht gerade eine Stärke dieser Schule war. Inmitten der angloamerikanischen Kinder wirkte AJ wie ein Außenseiter.
Entgegen dem Strom, der über die Gänge wogte, bahnten sie sich einen Weg zum Schulbüro. Hier war es zwar leiser als auf dem Flur, aber nicht weniger geschäftig. Schreibkräfte arbeiteten an Computern, Lehrer kontrollierten ihre Postfächer, die Schulkrankenschwester kümmerte sich um zwei kränklich aussehende Schüler. Bo wartete mehrere Minuten am Empfangstresen, doch niemand bemerkte sie.
„Entschuldigen Sie, Ma’am“, sagte er zu einer der Frauen am
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