Nur Wenn Du Mich Liebst
dem abgewetzten grünen Läufer. »Du weißt doch, dass er das alles nicht so gemeint hat. Mom?«
Das Wort zog eine Schar unausgesprochener Sätze hinter sich her. Mom, was hat Dad hier gemacht? Mom, warum war er so wütend? Von welchen Anrufen hat er geredet? Mom, bitte sag es mir. Sag mir, worum es hier heute Nacht wirklich ging. War es meine Schuld?
»Mom?«
Barbara lächelte Tracey aus tränenverschleierten Augen an, wie immer erstaunt über das Wunder, das sie hervorgebracht hatte. Tracey erwiderte den Blick ihrer Mutter mit runden, dunklen Augen, die nichts preisgaben. Was denkt sie wirklich von mir?, fragte Barbara sich, strich sanft über das Haar ihrer Tochter und verhedderte sich in dem Gewirr ihrer vom Schlaf zerzausten Locken. Sieht sie das Gleiche wie Ron – eine bemitleidenswerte, nicht mehr junge, von ihrem Mann verlassene, allein im Dunkeln sitzende Frau, die sich an verblassende Träume vergangenen Ruhms klammerte? Eine verbitterte, blutsaugende, vertrocknete alte Dörrpflaume? »Du solltest schlafen gehen«, sagte Barbara zu ihrer Tochter.
»Und du auch.«
Vielleicht sollte sie Rons Rat befolgen, ungeachtet seiner ätzenden Wut, und einen Therapeuten konsultieren, jemanden, der ihr helfen konnte, ihre Probleme zu bewältigen und ihr Leben wieder in den Griff zu bekommen. Aber Therapeuten kosteten Geld, und Ron hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass die Bank ab sofort geschlossen war. »Du solltest jetzt wirklich wieder ins Bett gehen«, erklärte sie Tracey.
»Du auch.«
»Geh schon mal vor, Schätzchen. Ich komme gleich nach.«
»Ich warte auf dich.«
»Nein, geh schon«, beharrte Barbara. »Bitte, Schätzchen. Alles in Ordnung. Ich brauche bloß noch ein paar Minuten.«
Tracey sah ihre Mutter an, zu müde, um zu widersprechen, und stand auf. »Und du versprichst mir, dass du gleich nachkommst?«
»In zwei Minuten.«
Tracey bückte sich, küsste ihre Mutter auf die Stirn und tappte auf ihren nackten Füßen langsam aus dem Zimmer.
»Danke«, sagte Barbara.
»Wofür?«
»Dass du so gut auf mich aufpasst.«
»Versuch nicht daran zu denken, was Daddy gesagt hat«, riet Tracey ihr, als könnte sie die Gedanken ihrer Mutter lesen.
»Ich habe es schon vergessen«, log Barbara, schloss, als Tracey sie zögernd allein ließ, die Augen und genoss die lindernde Finsternis.
»Mom?«, rief Tracey praktisch unmittelbar darauf von oben. »Zwei Minuten sind um. Kommst du jetzt?«
Mit einem müden Lächeln rappelte Barbara sich auf die Füße und ging wie in Trance zur Treppe. Sie hatte die Hand aufs Geländer gelegt und ihren Fuß auf die erste Stufe gesetzt, als sie einen Wagen in der Auffahrt und Schritte vor der Tür hörte. Sie fragte sich, ob Ron zurückgekommen war, um sie mit weiteren hasserfüllten Tiraden zu überziehen und ihr noch ein paar Schimpfwörter an den Kopf zu werfen, die er beim ersten Mal vergessen hatte? Würde er diesmal anklopfen oder wieder seinen Schlüssel benutzen? Morgen musste sie das Schloss auswechseln lassen und dem räudigen Ron die Rechnung schicken, um ihm zu zeigen, dass die vertrocknete alte Dörrpflaume noch ein paar Tricks auf Lager hatte.
Aber das Klopfen an der Tür war sanft, fast schüchtern, wurde jedoch, je länger Barbara zögerte, immer drängender. Barbara ging langsam zur Tür und starrte durch den Spion in die bitterkalte Nacht. »Oh, mein Gott.«
»Mom«, rief Tracey von oben. »Wer ist das?«
Barbara öffnete die Tür und streckte die Hand aus. Und im nächsten Augenblick sank Chris auch schon in ihre ausgebreiteten Arme.
17
»Mein Gott, was ist denn mit dir passiert?« Barbaras Hände flatterten um Chris, unsicher, wo sie verharren sollten. Sie berührte ihre zitternden Schultern, ihre vom Schnee feuchten Haare, ihr tränenüberströmtes Gesicht. »Tracey, bring mir ein paar Decken. Schnell!«
Chris blickte zur Auffahrt, wo der Taxifahrer an seiner Wagentür lehnte und sie nervös beobachtete. »Die Jacke gehört ihm«, flüsterte Chris heiser und streifte die speckige schwarze Jacke von ihren Schultern. Barbara fing sie auf, bevor sie auf dem Boden landete. »Ich habe kein Geld.«
»Darum kümmern wir uns schon.« Barbara fragte sich, was zum Teufel heute Nacht eigentlich los war. Waren alle verrückt geworden? Dabei war noch nicht einmal Vollmond. Tracey kam mit blauen und grünen Decken im Arm zurück, die Barbara sofort um Chris wickelte. Mein Gott, was hatte sie denn an? »Gib dem Taxifahrer die Jacke und nimm Geld aus
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