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Nur zu deinem Schutz (German Edition)

Nur zu deinem Schutz (German Edition)

Titel: Nur zu deinem Schutz (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harlan Coben
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sagte Myron. »Vielleicht sollte ich dir lieber einen Rollstuhl organisieren, was meinst du, Dad?«
    Grandpa winkte ab. »Ich werde zu Fuß zum Grab meines Sohnes gehen.«
    Stumm machten wir uns auf den Weg. Grandpa, der sich schwer auf seinen Stock stützte, ging voraus. Grandma und ich folgten ihm, Myron bildete das Schlusslicht. Als wir uns dem Grab näherten, schloss Myron zu uns auf. »Alles okay?«, fragte er mich.
    »Geht schon«, sagte ich und ging etwas schneller.
    Das Grab meines Vaters hatte noch keinen Grabstein.
    Niemand von uns sagte etwas. Wir standen einfach nur da. Auf dem angrenzenden Highway rasten Autos vorbei, deren Insassen keinen einzigen Gedanken daran verschwendeten, dass nur ein paar Meter von ihnen entfernt eine erschütterte Familie trauerte. Dann fing Grandpa ohne jede Vorwarnung an, das Kaddisch, das hebräische Totengebet, zu sprechen. Wir waren überhaupt nicht religiös, aber ich glaube, manche Dinge tut man einfach aus Tradition, als Ritual, weil es einem ein Bedürfnis ist.
    » Jitgadal vejitkadasch sch’mei rabah … «
    Myron zog ein Taschentuch aus der Jacke und wischte sich über die Augen. Ich wandte den Blick ab und versuchte, keine Miene zu verziehen, während sich ein seltsames Gefühl in mir ausbreitete. Es war nicht so, als hätte ich der Hexe geglaubt, aber als ich vor dem Grab meines Vaters stand, den ich so sehr vermisste, dass es mir beinahe das Herz zerriss, blieb ich eigenartig unberührt. Wie konnte das sein? Wie konnte ich an der letzten Ruhestätte meines Vaters stehen, ohne etwas zu empfinden?
    Eine kleine Stimme in meinem Kopf flüsterte: Weil er nicht hier ist …
    Mit gefalteten Händen und gebeugtem Kopf beendete Grandpa das lange Gebet mit den Worten: »Aleinu ve al kol jisroel v’imru. Amein.«
    Myron und Grandma stimmten in dieses vierte und letzte Amen mit ein, ich blieb stumm. Dann standen wir noch eine Weile lang still da, jeder in seine eigenen Gedanken versunken.
    Ich dachte an den Tag der Beerdigung zurück, als ich das erste Mal – zusammen mit meiner Mutter und niemandem sonst – auf diesem Friedhof gewesen war. Mom war so zugedröhnt gewesen, dass sie kaum etwas mitbekommen hatte. Sie hatte mir das Versprechen abgenommen, niemandem von Dads Tod zu erzählen, weil sie Angst gehabt hatte, Myron würde sonst behaupten, sie sei unfähig, ihrer Aufgabe als Mutter gerecht zu werden, und die Vormundschaft für mich beantragen. Ich blickte auf das kleine Schild hinunter, das anstelle des noch nicht fertiggestellten Steins das Grab markierte. Es hatte auch an jenem Tag schon dort gelegen. BRAD BOLITAR stand in schlichten schwarzen Buchstaben auf einem laminierten weißen Kärtchen, das daran befestigt war.
    Nachdem eine weitere Minute des Schweigens vergangen war, schüttelte Grandpa schließlich den Kopf und sagte: »So etwas sollte niemals passieren.« Er sah zum Himmel auf. »Ein Vater sollte niemals das Kaddisch für seinen Sohn sprechen müssen.«
    Mit diesen Worten drehte er sich um und machte sich auf den Rückweg. Myron und Grandma folgten ihm langsam. Ich machte einen Schritt auf das Grab zu. Mein Vater, der Mann, den ich mehr als jeden anderen liebte, lag hier unter der Erde begraben.
    Ich hatte zwar nicht das Gefühl, dass er tatsächlich dort unten lag, aber das hatte wahrscheinlich nichts zu sagen. Wie betäubt starrte ich auf das Schild und rührte mich nicht von der Stelle.
    »Mickey?«, hörte ich Myron hinter mir leise rufen.
    Ich reagierte nicht, weil … nun ja, weil ich nicht konnte. Ich starrte auf das Schild und spürte, wie die Grundfesten meines sowieso schon erschütterten Lebens erneut zu beben begannen. Ich sah Dads Namen. Ich sah die schlichte schwarze Schrift. Aber ich hatte auch noch etwas anderes bemerkt. Eine Zeichnung. Sie befand sich in der rechten unteren Ecke des Kärtchens und war auf den ersten Blick kaum zu erkennen – ein bunter Schmetterling mit Punkten an den Flügelspitzen, die wie die Augen eines Tieres aussahen. Ich hatte diese Zeichnung schon einmal gesehen – im Haus der Hexe.
    Es war der gleiche Schmetterling wie auf den T-Shirts der fünf jungen Leute auf der alten Fotografie, die auf ihrem Kaminsims stand.
    Am Flughafen umarmten und küssten wir uns zum Abschied. »Und an Thanksgiving besucht ihr uns«, sagte Grandma zu Myron und mir.
    Es war keine Frage, sondern eine Feststellung, und auch dafür liebte ich sie. Ich finde es unglaublich schade, dass ich meine Großeltern nicht schon früher

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