Nuramon
Nerimee entfachten das Interesse. Waren die Gäste erst einmal da, schmiedete sie mit ihnen Bündnisse; und als Daoramu zum ersten Mal Ceren offenbarte und er die staunenden Gesichter ihrer Gäste sah, glaubte Borugar, dass nun eine ruhige Zeit bevorstand.
Ceren vermochte kein rechtes Körpergefühl zu entwickeln. Schuld daran war der weiße Stein. Er blieb ihr fremd. Umso mehr spürte sie das Leben dieser Welt, die nun ihr Zuhause war. Insbesondere die Geheimnisse der Kräuter interessierten sie. Sie ließ sich Pflanzen bringen, erkannte ihre Ähnlichkeiten zu denen Albenmarks und flüsterte den Menschen Rezepte zu. Und Daoramu und Nylma entlockten ihr ein Geheimnis, das im Verborgenen weite Kreise zog und unter Frauen bald als Der Trank bekannt wurde.
Der Lauf der Zeit
Nuramon war gern Vater, und weil er sich an die wenigen Augenblicke mit seinem Sohn Weldaron kaum erinnerte und er seine Tochter Gaomee nie kennengelernt hatte, brachte ihm Nerimee mit jedem Tag etwas Neues. Immer wieder fragte er sich, ob er alles richtig machte, versuchte zu ergründen, ob er den Erwartungen Daoramus und ihrer Familie entsprach und bewunderte Daoramus Sicherheit im Umgang mit jeder neuen Herausforderung.
Rasch stellte er fest, dass seine Geduld der Schlüssel zu allem war. Er sang Nerimee stundenlang vor und erzählte ihr Geschichten – erst weil sie seine Stimme mochte; später dann, weil sie seine Erzählungen schätzte. Und auf jede ihrer vielen Fragen gab er ihr so lange und erschöpfend Antwort, bis Nerimee die Geduld verlor. Und ihre Geduld war keineswegs knapp bemessen.
Nuramon nannte Nerimee oft ihrem Namen entsprechend Kleines Orakel . Und als sie gerade sprechen lernte, sagte sie darauf immer: »Ich bin kein Orakel. Ich bin Nerimee.« Damit begann ein Spiel. Er fragte sie, ob sie ein Mädchen, ein kluges Kind, eine Schönheit oder eine Große sei, doch sie sagte immer wieder: »Ich bin Nerimee.« Es war eines der wenigen Spiele, bei dem Nerimees Geduld unermüdlich schien. Und es war Nuramon, der jedes Mal nachgab.
Leider erwartete Nerimee von Daoramu eine ähnliche Ausdauer, wie Nuramon sie zeigte, und war deswegen rasch enttäuscht und frustriert, weil ihre Erwartungen nicht erfüllt wurden. »Was soll ich tun? Soll ich sie zurückweisen?«, sagte er eines Abends zu Daoramu, als diese sich erschöpft in die Kissen sinken ließ.
»Nein. Aber versetz dich mal in meine Lage. Wie würdest du dich fühlen, wenn sie wieder und wieder mit Erwartungen zu dir käme, die du nicht erfüllen kannst?«
Immer wieder kam es deswegen zum Streit zwischen ihnen, und dieser klärte sich erst, als Nerimee größer war und erkannte, was sie von wem erwarten und was sie wem zumuten konnte. Doch kaum glätteten sich die Wogen, brandeten sie an anderer Stelle erneut auf. Daoramu liebte Auseinandersetzungen, und Nuramon war geduldig genug, diese auszutragen. Immer begann der Streit ernst, brauste dann auf und trieb schließlich so weit ab, dass sie am Ende nicht anders konnten, als zu lachen. Bald schon hatten sie gelernt, wann sie ihre Stärken einbringen, nachgeben, reden und schweigen mussten; wann sie einander herausfordern, beruhigen und besänftigen mussten. Nicht selten schlossen sie einander nach einem Streit in die Arme und waren sich einig, dass das Schicksal ihnen hold war.
In ihrem ersten Lebensjahr sang Nerimee oft im Schlaf, und während Daoramu ihrer Tochter lediglich verzückt lauschte, bestand Nuramon augenzwinkernd darauf, Nerimee wirke dabei einen Traumzauber. Und tatsächlich gönnte das Mädchen Daoramu den Schlaf, den sie ihr vor ihrer Geburt so oft geraubt hatte. Sie stillte die Tochter nur einmal pro Nacht, und wenn ihr kleines Orakel schrie, dann noch immer so leise wie ein Kätzchen.
Daoramu tat sich schwer damit, Nerimee anderen anzuvertrauen. Ihre Mutter musste ihr sogar gut zureden, damit sie Nuramon gelegentlich Zeit alleine mit dem Kind gönnte. Anfangs schaute sie noch aus dem Fenster, wie Nuramon unten auf der Bank im Garten saß und Nerimee im Arm wiegte oder sie durch den Park spazieren trug. Sie war so fasziniert von dem Anblick, dass sie die Zeit, die sie für sich hätte nutzen können, verstreichen ließ.
Erst nachdem ihre Mutter sie ertappt und zur Rede gestellt hatte, zog sie sich zurück und ging wieder ihren eigenen Angelegenheiten nach. Meist saß sie in der Bibliothek, las in den Chroniken und schrieb Briefe. Die Herrschaft ihres Vaters zu sichern war dabei nach wie vor ihr wichtigstes
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