Nuramon
tatsächlich räkelte sich Nerimee und seufzte leise. Es klang wie das Summen eines Liedes. Ein hoher Ton, der sich lieblich in die Tiefe zog.
Nuramons Lächeln steckte Daoramu an. »Unser kleines Orakel«, sagte sie und strich Nerimee über die winzigen Finger.
Der Winter kam, und Nuramon und Daoramu waren oft mit Nerimee im schneebedeckten Garten, saßen auf Schafspelzen, hüllten sich in dicke teredyrische Wintermäntel und schauten in die Stadt hinab. Nuramon tastete mit der rechten Hand unter der Pelzdecke nach Daoramus Hand und streichelte sie.
Vor wenigen Tagen erst hatte sie die Kunde von Herzog Doaros Fall erreicht. Das Land südlich von Urijas zählte wieder zum Fürstentum. Wenngleich Doaro sich nach Nyrawur, ins benachbarte Fürstentum, abgesetzt hatte, war Borugar zufrieden. Der Verrat des Herzogs von Gaelbyrn hatte sich nicht gelohnt. Der ganze Osten war zurückerobert.
»Ich wünschte, der Winter würde ewig dauern«, sagte Daoramu und lehnte ihren Kopf an Nuramons.
Er betrachtete die weißen Dächer, die sich bis zu den Stegen der Fischer hinabzogen. Nur die Rauchsäulen, die aus den kurzen Schorn steinen emporstiegen, trübten den Blick in diesen klaren Morgen. Jenseits der Flussmündung und der Fischerdörfer wellte sich das eisige Land bis zur weißen Wand der Lysdorynen. »Du sehnst dich nicht nach dem Frühling?«, fragte er.
»Im Augenblick mag ich den Winter lieber«, entgegnete sie. »Alles ist erstarrt, und nichts kann an uns herankommen.«
»Du fürchtest, der Frühling könnte mich zu weit forttragen.«
»Oder uns beide. Aber nicht an dieselben Orte.« Sie schaute zu Nerimee hinab. Er folgte ihrem Blick und sah, dass ihrer Tochter die Augen zugefallen waren.
Er schob mit dem Stiefel den Schnee beiseite. »Falls Jasgur den Osten festigen kann, bleibt uns vielleicht einiges erspart. Und je mehr Vertrauen dein Vater bei den Grafen und Herzögen gewinnt, umso weniger wird er sich auf Jasgur und mich verlassen müssen.«
Daoramu nickte langsam.
»Das war es, worüber du letzte Nacht nachgedacht hast, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie. »Und ich habe mit Ceren gesprochen.«
Nuramon lächelte. »Du musst aufpassen. Baumgeister verfü gen nicht über die gleichen Gefühle wie Elfen oder Menschen. Ceren neigt dazu, Gefühle hinzunehmen und nicht gegen sie anzu kämpfen.«
Daoramu blinzelte, und Nuramon musste schmunzeln. »Du hast recht«, sagte er. »Das kann man mir auch nachsagen. Aber was sagte sie dir?«
»Dass es auch in meiner Hand liegt, dich zu beschützen. Denn ich kann darauf hinstreben, dass mein Vater sich auf den Adel verlassen kann.«
»Das hat sie dir gesagt?«
»Nicht direkt, aber ich habe es so verstanden. Wenn es mir gelingt, genügend Adlige fest an uns zu binden, würde das immer mehr Last von euch nehmen. Und mit dir und den anderen in Vaters Nähe fühle ich mich sicher und sehe zufrieden in die Zukunft. Selbst wenn Ceren nie einen Weg finden sollte, mein Altern hinauszuzögern, ist es ganz genauso, wie du damals in Teredyr zu mir gesagt hast: Vor uns liegen vielleicht viele wundervolle Jahre.«
»Dann brauchst du dich auch nicht vor dem Frühling zu fürchten«, sagte Nuramon und strich mit seinen Händen über ihre kühlen Finger.
Orakelblick
Mit dem Monat Oburun kam der Frühling und das Jahr 2257 nach der Befreiung der Urahnen aus der Sklaverei. Jasgur hielt mit Herzog Golro und den Grafen des Nordostens den Varmuliern stand. In diesen Wochen wurden Helden gemacht, und als Jasgur die Begeisterung in den Gesichtern der jungen Krieger in seinem Heer sah, fühlte er sich zum ersten Mal alt. Und als er nach Jasbor zurückkehrte und der Fürst ihn fragte, ob er sich ein Lehen wünschte, nickte er. So wurde Jasgur Herzog von Gaelbyrn und Nachfolger von Doaro, dem Verräter.
Nach der Befreiung von Ost-Yannadyr fürchtete Borugar nicht mehr um den Osten; der Westen jedoch bereitete ihm Sorgen. Helerur vertraute er, doch die meisten anderen Herzöge und Grafen musste er erst an sich binden und ihre Ambitionen zügeln. Daoramu, deren be sondere Gabe es seit jeher gewesen war, Menschen für sich zu gewinnen, war sein Schlüssel zum Adel des Westens. Sie reichte nicht nur Grafen und Herzögen die Hände, sondern auch den Großbauern, den Händlern und all jenen Gemeinschaften, die das Herrschaftsgefüge durchdrangen. Oft lud sie Gäste in den Palast ein, und man folgte ihren Einladungen gern, denn eine Mutter wie Daoramu, ein Vater wie Nuramon und ein Kind wie
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