Nuramon
immer wieder ihre magischen Fähigkeiten, und ihr Vater erzählte ihr, dass jeder von ihnen einen anderen Blick auf die Welt habe. Mit ihrer Magie zu sehen und zu spüren, misslang ihr anfangs. Doch dann sagte Ceren ihr, sie müsse anders als ihr Vater ihre Kraft nach dem ausstrecken, was sie erfahren wollte. Ganz so, als taste sie nach etwas. Und von da an stand ihren Sinnen eine Tür offen. Sie sah die Magie Cerens und die ihres Vaters; auch die ihrer Brüder gewahrte sie. Sogar das Glitzern von Nylmas Almandin vermochte sie zu sehen, wenn sie ihre Macht aussandte.
Im Palast fühlte sich Nerimee oft wie eine Gefangene. Deshalb reiste sie gern – nicht so sehr zu Besuchen bei Grafen und Herzögen, sondern in die Ferne. Im Winter führte ihr Vater sie gerne über die Albenpfade nach Süden an den Rand der Wüste, wo ihre Mutter und ihr Großvater Handel trieben; im Frühling verbrachten sie manchmal einige Tage in Teredyr. Sie reisten über den nördlichen Albenstern in die winzige Siedlung Alvamur, über den Pass hinab ins Minendorf von Teredyr und schließlich hinunter in die Stadt. Auch die Quelle, an der ihr Vater einst gelebt hatte und an der sie einen Hauch von Magie spürte, besuchten sie.
Alvarudor gefiel Nerimee besonders gut. Die Stadt, die sich aus dem Tal mit dem Albenstern den Berg hinaufzog, sich auf dem Markplatz öffnete und sich von dort aus in die Klamm hinabsenkte, erinnerte sie an die Geschichten, die ihre Mutter ihr während der Schwangerschaft mit Gaerigar erzählt hatte – Geschichten aus jener Zeit, als Nerimee in Daoramus und Waragir in Nylmas Bauch herangewachsen war.
Je weiter die Reise war, umso glücklicher war die Heimkehr. Neben ihrer Familie vermisste Nerimee in der Fremde auch ihre Freunde, und unter diesen war Waragir ihr der liebste. Er war ihr lieber als jedes Mädchen, entlockte ihr aber nicht dieselben Gefühle wie die Jungen, die sie bei ihren Freundinnen traf. Er war immer da, und dass er sie mochte und sie sich auf ihn verlassen konnte, wusste sie. Er war wie ein weiterer Bruder.
Mit dem Älterwerden begannen ihre Eltern, sie immer wieder zu fragen, was sie für Waragir empfand. Nerimee verstand nicht, was sie mit ihren Fragen bezweckten, doch Ceren war offen zu ihr und nie um eine Antwort verlegen. Es war die Geisterfrau, die ihr von der Liebe und von ihrem Körper und seinen Veränderungen erzählte – und das zu einer Zeit, da ihre Mutter meinte, es könne noch warten, und ihr Vater ihr sagte, er habe ihrer Mutter versprochen, sie zu vertrösten.
Dann kam der Tag, da sie Waragir mit anderen Augen sah. Er hatte das schelmische Lächeln seines Vaters und dabei das lange Gesicht und die grünen Augen seiner Mutter; Augen, die ihr vorher nicht weiter aufgefallen waren, die sie nun aber immer öfter in ihren Bann zogen. Sie hatte sich in ihn verliebt.
Ceren lächelte, als Nerimee ihr davon erzählte: »Das Gefühl, das du jetzt hast, darfst du nicht vergessen. Denn bald schon wirst du in ihm einen Jungen sehen, während du dich schon für eine Frau hältst.«
Nerimee glaubte ihr nicht.
Gaerigar hatte die Krieger stets bewundert – erst Yargir, Nylma und die Palastgarde, dann seinen Vater und die Ilvaru. Zu Beginn hatte er Nuramon nicht als Krieger wahrgenommen, denn seine Mutter hatte ihm die Geschichten von den Heldentaten seines Vaters stets vorenthalten. Als aber Nylma und Yargir ihm erklärten, dass sein Vater ein großer Krieger war und er ihn dann zum ersten Mal mit den Ilvaru sah, da wusste Gaerigar, dass er ebenfalls Krieger werden wollte.
Seine Eltern wollten nichts davon wissen, doch in seinem Großvater fand er schnell einen Verbündeten. Mit leuchtenden Augen erzählte Borugar ihm, wie er mit Helerur das Kämpfen gelernt hatte, und schließlich sprach er auch mit seinen Eltern, die sich nach langem Zögern bereit erklärten, die Fähigkeiten ihres Sohnes auf die Probe zu stellen. Eines Tages war dann es so weit: Borugar offenbarte ihm, dass die Familie beschlossen hatte, ihn zum Thronerben zu machen. Er würde der Fürst von Yannadyr werden. Gaerigar strahlte vor Glück. Jetzt würde er das Kämpfen erlernen, um so eines Tages mit den Fähigkeiten seines Vaters und dem Herzen seines Groß vaters ein würdiger Nachfolger auf dem Fürstenthron zu sein.
Leider hatte er die Rechnung ohne seine Mutter gemacht, denn diese schickte ihn statt in die Schwerthalle in die Studierstube. Dort brachten Gelehrte ihm das Lesen und Schreiben nahe, und Gaerigar
Weitere Kostenlose Bücher