Nuramon
nach Westen aufs Meer hinausblickte, sagte sie: »Ich könnte nun alleine dort auf den anderen Kontinent hinübergehen. Dorthin, wo du gewandelt bist.«
»Versprich mir, dass du das nicht tust«, sagte Nuramon. »Es wartet nur Unheil auf dem anderen Kontinent. Der Hass gegen unseresgleichen ist dort zu groß, als dass du das Wagnis eingehen solltest.«
»Aber jede Herrschaft endet«, entgegnete seine Tochter. »Auch die der Tjuredanbeter. Große Reiche teilen sich in kleine, kleine fügen sich zu großen zusammen. So ist der Lauf der Dinge.«
»Du liest zu viele Sagen, Nerimee. Was in einer Nacht mit dem Tod eines Mannes – halb Devanthar, halb Elf – seinen Anfang nahm, durch die Lügen im Namen der Kirche des Tjured verkehrt wurde und ein Jahrtausend überstand, schwindet nicht so leicht. Also versprich mir, dass du nicht dorthin gehst.«
Sie nickte, dann grinste sie. »Aber Yendred wird dir dieses Versprechen niemals geben.«
»Eines Tages werden wir ihn in das Geheimnis der Albenpfade einweihen. Schau dir Gaerigar an. Wenn er will, kann er Dinge erreichen, die er sich selbst nicht zutraute.« Nuramon lächelte, als er an die Fortschritte seines Sohnes dachte. Er hatte ihm die Kampfzauberei beigebracht. Feuer und Stein schienen ihm nahezustehen. Er schoss Flammen weiter als Nuramon, wenngleich er sie noch nicht zu beherrschen vermochte. Und er konnte einen Stein werfen, und dieser vervielfachte sich zu einem Hagel aus Steinen. Nuramon hatte diesen Zauber einst bei den Zwergen gelernt, ihn aber nie selbst ausreichend beherrscht. »Hast du gesehen, was Gaerigars Steinzauber mit der Schuppenrüstung gemacht hat?«, fragte er. »Das ist der Beweis, dass ihr in mancher Hinsicht weiter seid als ich. Die Macht, die Gaerigar spürt, hat ihn verändert.«
Nerimee nickte. »Seit meiner Entführung ist er ein anderer. Und die Zeit hat ihn nun reifen lassen.«
»Ebenso wird die Zeit Yendreds Neugier zügeln. Nur noch einige Jahre, und er weiß, was Verantwortung ist.« Er dachte an die vielen Stunden, in denen er seinen Jüngsten unterwiesen hatte. Yendred war eigentlich Nerimees Schüler, doch seine Tochter war immer öfter mit Daoramu im Fürstentum auf Reisen, und so unterwies er seinen Sohn während ihrer Abwesenheit. Dabei merkte er wieder einmal, wie sehr ihn sein jüngstes Kind verehrte. Oft kamen sie gar nicht zum Zaubern, so sehr verloren sie sich in Yendreds Fragen über seine Vergangenheit. Manchmal kam Gaerigar hinzu, und er blieb, wenn Nuramon von Emerelle oder Albenmark erzählte.
So sehr Nuramon die Zeit mit seinen Söhnen schätzte, so sehr vermisste er Daoramu und Nerimee, wenn diese auf Handelsreisen waren. Und jede Rückkehr wurde zu einem Glück für ihn und für das Fürstentum. Die Familie erblühte, Borugars Herrschaft festigte sich, das Handelshaus machte gute Geschäfte, und die Feinde hielten den Waffenstillstand. Doch dann kam das vierte Jahr. Das Jahr, in dem das Glück zerbrach.
Das Rennen von Jasbor
Der Tag des großen Rennens war gekommen, und Gaerigar ritt auf seiner Stute Lyrma den Fürstenweg in die Unterstadt hinab und überholte einen Krieger aus Byrnjas. Unter den Augen der jubelnden Zuschauer ritt er als Dritter auf den Marktplatz ein. Hier waren sie gestartet, hier würde nach sieben Runden ihr Ziel liegen. Gaerigar blickte nach links. Dort saß seine Familie auf der Holztribüne vor dem alten Haus seiner Familie, in der Ecke des fürstlichen Handelshauses. Sie alle jubelten ihm zu. Er sah noch Yendred, Nerimee und Waragir winken, dann war er auch schon vorbeigeritten.
Beim vierten Umlauf hatte Gaerigar es auf den zweiten Platz geschafft. In der Oberstadt hatte er den Krieger aus Byrnjas überholt. In der fünften Runde jedoch fiel er wieder zurück. Fünf Reiter waren jetzt vor ihm, und er hatte die Hoffnung auf den Sieg beinahe aufgegeben. Die Konkurrenz war einfach stärker als im Jahr zuvor – oder er war schwächer geworden oder harmonierte noch nicht genug mit Lyrma. Immerhin war das Pferd erst seit einem Monat bei ihm. Seine Familie hatte es ihm zum Geburtstag geschenkt. Und obwohl er das Tier liebte, zweifelte Gaerigar an ihm. Am Anfang der siebten Runde aber zeigte sich Lyrmas Stärke. Die Stute war nicht die Schnellste, aber sie schien unermüdlich.
Als sie in die Oberstadt kamen, gewann Gaerigar an Boden, schob sich am Beginn des Fürstenweges wieder an den Krieger aus Byrnjas heran und ging auf halbem Weg in die Unterstadt in Führung. Nur noch hinab bis an
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