Nuramon
beschädigten Pfade zwangen Nuramon und die Gefährten dazu, einen Umweg über die weiten Wälder von Drusna zu machen. So näherten sie sich jenem Gebirge, das die Menschen einst Zwergenfelsen, die Kinder der Dunkelalben selbst aber Drachengebirge genannt hatten. Dieser Name hatte Nuramon früher wenig bedeutet. Mit den Erinnerungen an seine früheren Inkarnationen jedoch dachte er an den Drachen, den er im Hochtal von Neu-Aelburin an der Seite der Zwerge getötet hatte. Balon war einer der jüngeren Drachen gewesen. Er war kaum mehr als ein Tier gewesen und hatte sich nicht mit der Macht der älteren Drachen messen können. Und doch hatte er ihnen derart zugesetzt, dass viele den Sieg mit dem Leben bezahlt hatten. So war auch Nuramon gestorben und ebenso der Zwergenkönig Wengalf.
Sie gingen durch einen Wald am sanft ansteigenden Berg, und Nuramon vermochte für eine Weile, die schlechten Erinnerungen zu verdrängen. Als der Wald sich aber lichtete und den Blick auf den Berg freigab, überkam ihn die Angst. Mit jedem Schritt, den er die Gefährten emporführte, verdichtete sich das Gefühl, dass dort oben der Drache aus seinen Erinnerungen lauerte.
Als sie die Baumgrenze überschritten hatten und am kargen Hang im Schatten von Felsen lagerten, fragte Daoramu: »Hast du Angst, dass dein früheres Ich noch dort auf dich wartet?«
Er hatte Daoramu erzählt, dass die Zwerge seinen toten Körper in Kristall eingeschlossen hatten, nachdem ihn der Kampf mit Balon das Leben gekostet hatte. Er hatte ihn damals bei seiner Suche nach Noroelle gesehen. Es war wie der Blick in einen verzerrenden Spiegel gewesen. »Nein, ich muss an den Drachen denken«, antwortete er.
Daoramu schmiegte sich an ihn und schaute mit ihm in das Tiefland hinab, über das sich gerade der Abend legte. »Siehst du«, sagte sie und deutete mit ihrem Stock zwischen den wenigen leuchtenden Flecken hin und her. »Es ist nicht so schlimm wie in Angnos.« Sie schaute zur Seite und in die Höhe. »Und dort oben auf dem Berg ist alles dunkel.«
»Die Magie kann auch wirken, ohne dass sie sich in einem Licht manifestiert«, sagte Nuramon. Als die Nacht sich über das Gebirge legte, spürte er etwas Magisches, das wie ein seichter Windhauch von oben herabwehte. Es war der vertraute Geruch der Zwergenmagie.
Zwischen Wald- und Schneegrenze ließen sie einen steilen Pass hinter sich. Daoramu war froh, sich ihres Wanderstocks noch nicht entledigt zu haben. Sie stiegen in ein weites Tal hinab und schritten den Wäldern entgegen, die sich in die Ferne zogen und um die Berghänge wanden. Merkwürdig schmale Rehe bewegten sich zwischen den Bäumen. So dachte Daoramu, die Magie hätte auch hier die Tiere verändert. Doch Nuramon versicherte, dass die Rehe in diese Region gehörten.
Im Wald gab es weder tote Flecken noch übermäßig wuchernde Pflanzen. Die Füchse und die Eichhörnchen wirkten natürlich und liefen davon. Die Adler zogen hier einzeln am Himmel ihre Kreise und nicht im Schwarm, wie jene, die sie auf ihrer Reise durch die von Magie überfluteten Gebiete gesehen hatten. Und die Wasserquellen erklärte Nuramon für frei von magischer Kraft. Sie fanden Wild schweinspuren, und als ihre Vorräte knapp wurden, gingen die Ilvaru auf die Jagd, und Daoramu und Nuramon fingen Fische im Fluss, während Bjoremul und Nylma ein Lagerfeuer machten.
Als sie nach drei Tagen aus dem Wald hinaustraten, war es Daoramu, als verließen sie eine abgeschlossene Welt. Vor ihnen lag nun eine gewaltige Felswand mit Fenstern und Scharten, mit Türmen und Balkonen. Alte Stangen ragten aus den Felsen heraus, und Daoramu vermutete, dass daran die roten Drachenbanner gehangen hatten, die Nuramon ihr beschrieben hatte. Doch entweder hatten sie die Zwerge damals, als sie wieder nach Albenmark aufgebrochen waren, mitgenommen, oder der Wind eines ganzen Jahrhunderts hatte die Banner fortgerissen.
Die von Pflanzen überwucherten Flügel des gewaltigen Tores lagen geborsten vor dem Felsen. Während die anderen auf den finsteren Eingang starrten, schaute Nuramon zu den wilden Wiesen zwischen den sanften Hügeln hinüber. Dort hatten Nuramon und die Zwerge den Drachen Balon bezwungen.
Schließlich wandte Nuramon sich ab, lächelte Daoramu zu und schritt mit ihr vor den Gefährten zwischen den zerbrochenen Torflügeln hindurch. Jenseits der Schwelle blieben sie alle stehen und schauten die gewaltige Halle entlang. Das Tageslicht drang in Strahlen von der Decke herab, und die
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