Nuramon
Unruhe.
»Die Angst gehört dazu«, sagte Nylma grinsend.
»Wie sollen wir es anstellen?«, fragte Daoramu.
»Du schreibst deinen Eltern einen Abschiedsbrief. Dann kommst du auf die Feier. Und dann folgen wir einfach meinem Plan.«
»Du hast bereits einen Plan?«
»Man lernt viel über ein Volk, wenn man deren Latrinen aufsucht.«
»Die Latrinen?« Daoramu staunte.
Nylma lachte. »O, diese Schamhaftigkeit! Bei uns gibt es eine Latrine für alle. Bei euch zwei Bereiche: einen für Männer, einen für Frauen. Und dann diese Kammern und diese Vorhänge! Diese Schamhaftigkeit ist wie eine gewaltige Bresche in einer Stadtmauer. Und genau durch eine solche Bresche werden wir mar schieren.«
»Wir sollen durch die Latrinen klettern?«, fragte Daoramu.
Nylma legte den Kopf schief und lächelte sie an. »Aber nein, meine Liebe. Oder sehe ich so aus, als würde ich eine Grafentochter durch die Latrinen entführen?«
Ein Abend in Merelbyr
Nuramon saß Helerur gegenüber, schaute aber immer wieder an Borugar und Jaswyra vorbei zu Daoramu. Ihr Blick wirkte kühl, der ihrer Mutter misstrauisch.
»Du hast dich also entschieden, das Angebot des Fürsten anzunehmen«, sagte Helerur und trank einen Schluck Wein aus seinem versilberten Pokal.
»Das habe ich nicht gesagt, Herzog«, antwortete Nuramon. »Ich sagte lediglich, dass ich noch in dieser Nacht aufbrechen werde, um an seinen Hof zu gelangen. Jasgur war so nett, mir den Weg zu beschreiben, und vielleicht kann ich über die Albenpfade sogar noch ein wenig schneller in Urijas sein.«
»Was willst du beim Fürsten, wenn du sein Angebot ausschlagen willst?«, fragte der Herzog.
Daoramu musterte Helerur mit starrem Blick.
Nuramon erinnerte sich an das, was Nylma ihm von Daoramu ausgerichtet hatte. »Ich werde dem Fürsten ein anderes Angebot machen«, sagte er. »Ich kann ihm mehr dienen, als meine Liebe ihm schaden kann. Dein Fürst wird ein Einsehen haben.« Er war kein guter Lügner, nicht für einen Elfen. Doch wenn er ruhig blieb, merkten die meisten Menschen nicht, wenn er log.
»Du unterschätzt meinen Herrn«, sagte Helerur. »Sei vorsichtig. Er ist sehr leicht gekränkt.«
»Vielen Dank für deinen Rat, Herzog.« Nuramon nickte Helerur zu. Selbstverständlich würde er nicht nach Urijas gehen. Wenn aber alle ihm diese Lüge glaubten, würde niemand erwarten, dass Daoramu und er noch an diesem Abend gemeinsam verschwanden.
Daoramu hielt den Blick starr auf ihren Teller gerichtet, wo Brot und Ziegenkäse ebenso unangetastet geblieben waren wie alle anderen Speisen an diesem Abend. Borugar warf seiner Tochter einen letzten prüfenden Blick zu, dann erhob er sich. »Auf Jasgur!«, rief er und hob seinen Pokal. Die Gäste riefen den Namen des Schwertfürsten, und schon wurde das nächste Lied gespielt, und die Leute tanzten zwischen den Tischreihen.
Kaum hatten die Musikanten ihr Lied gespielt, erhob sich Daoramu mit trotziger Miene und rief: »Auf Nuramon! Und dass er am Hof des Fürsten Gehör findet!« Borugar und seine Vertrauten wiederholten den Trinkspruch nur halbherzig. Die Zustimmung der übrigen Gäste jedoch war ohrenbetäubend und brachte Daoramu endlich zum Lächeln.
Schließlich winkte Nuramon Yargir und Nylma zu sich und bat sie, die Pferde satteln und die Taschen aufladen zu lassen. Als alles bereit war, verabschiedete er sich von Borugar und Helerur und beugte dann sein Haupt vor Jaswyra.
»Auf Wiedersehen, Daoramu!«, sagte er schließlich. »Mögen deine Ahnen mir beistehen. Falls ich den Fürsten aber nicht umzustimmen vermag, ist dies unser Lebewohl.«
»Ich werde auf dich warten und hoffen, so lange es auch dauert«, entgegnete sie. »Auf Wiedersehen, Nuramon.«
Waren Daoramus Abschiedsworte gespielt, um bei den Gästen einen falschen Eindruck zu erwecken, war Jasgurs Lebewohl aufrichtig und warmherzig. »Es war eine Ehre, an deiner Seite zu kämpfen«, sagte er und reichte Nuramon die Hand. Er ergriff und drückte sie. »Und dein Herr kann stolz sein, einen so treuen Schwertfürsten in seinen Reihen zu haben«, sagte Nuramon.
Schließlich wandte er sich ab und schritt hoch erhobenen Hauptes an Yargirs Seite durch den Festsaal. Das Letzte, was er sah, ehe er die Halle verließ, war Nylma, die sich am Rande der Feier unauffällig durch die Menschenmenge bewegte.
Erst als Nuramon im Freien war, wurde er unruhig. Er kannte Nylmas Plan, und deshalb wusste er auch, dass Daoramu sich jetzt auf den Weg zu den Latrinen machen sollte. Dort
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