Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
weiß plötzlich, dass die Erinnerung nicht in der Vergangenheit ist, sondern in meiner Zukunft, und dass sie dort auf mich wartet. Dann fange ich aus meinen Armen zu bluten an, und überall um ihr Gesicht strömt das Blut nach oben. Ich will die Hand nach ihr ausstrecken, aber sie ist nicht mehr echt. Sie löst sich in Schnee auf und wirbelt in die Höhe, das heißt in die Welt hinunter, und dann – dann wird alles weiß. Und davor, da sehe ich einen Herzschlag lang bloß Wiesen, unendlich weite, grüne. Und da ist … Jetzt ist der Traum zuende.«
Einige Augenblicke wartete Scapa auf eine Antwort. Als Maferis schwieg, wandte er sich fragend zu ihm um. Der Moorelf lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. Er beobachtete Scapa reglos, während drau-
ßen der Wind um die Hütte pfiff. Das Knarren der Holzwände erfüllte die Stube. Maferis lächelte kaum merklich und deutete mit dem Zeigefinger in die Höhe.
»Ja, der Wind. Höre nur, wie er heult. Wie er mit den rieselnden Schneeflocken spielt …« Er stützte beide Ellbogen auf die Stuhllehnen und richtete die Handflächen gen Himmel. »Er sammelt sie und verwandelt sie in weiße Wogen, treibt sie unbarmherzig aufeinander zu. Wir Elfen und Menschen sind auch nicht mehr als Schneeflocken im Wind, weißt du.
Das Leben reißt und zerrt uns in verschiedene Richtungen, manchmal zusammen, dann gegeneinander.
Es scheint, wir sind für das Leben nicht mehr als ein lustiges Spiel.« Marens lehnte sich zu Scapa vor, ein kleines Stück nur. »Du, mein Junge, scheinst mir ein besonderes Schneekorn zu sein. Der Wind wird dich hoch emportragen in den weißen Himmel, und du wirst ziellos durch die Straßen des Lebens irren, hin-und hergerissen zwischen Erde und Luft. Nur in den friedlichen Wiesen dazwischen wirst du niemals sein. Am Himmel wirst du wandeln, während die flirrenden Massen gegen dich wirbeln, in die andere Richtung, der Welt entgegen, die dir über dem Kopf zusammenstürzt … Du wirst tanzen zu dem Lied des Windes, ob du willst oder nicht. Und doch kannst du etwas an der Richtung ändern, in der du dem Leben folgst, mein Junge. Höre, höre nur dem Wind zu …
lausche seinen Worten … dann erkennst du den Weg, dem du folgen musst. Und dort, wo du deine Füße aufsetzt, wird das Schicksal der Welt geschrieben.«
Scapa bewegte keinen Muskel. Er versuchte den Blick des Moorelfs fest zu erwidern, doch es gelang
ihm nicht; seine Wimpern zitterten. »Wieso prophe-zeist du ausgerechnet mir so ein Schicksal? Ich bin nicht so wichtig, wie du denkst. Nill hat vielleicht ein so großes Schicksal, aber ich …«
»Nill?«, rief der Moorelf und verzog das entstellte Gesicht. »Nill, das Mädchen?« Dann lehnte er sich vor und packte Scapa so plötzlich am Handgelenk, dass der zusammenzuckte. »Es gibt einen Grund, warum die Welt von Männern geformt und geführt wird. Männer wie ich – wie du – wir leiten große Dinge. Und Frauen …« Ein Zischen lag in der Stimme des Moorelfs. »Frauen, wenn sie bedeutsam sind, zerstören große Dinge!«
Scapa musterte Maferis kühl, obgleich er erschrocken war, weil soviel Hass in seiner Stimme schwang. »Das glaube ich nicht«, flüsterte Scapa.
»Ich glaube nicht, dass ich mehr bewirken kann und werde als Nill.«
Ungeduldig winkte der Moorelf ab. »Das wirst du sehen, Junge, so wie du zum rechten Zeitpunkt alles sehen wirst. Aber zweifele nicht an deinem Schicksal. Zukunft und Vergangenheit hängen bei dir so nah zusammen wie Himmel und Erde, Hass und Liebe. Dein Blut wird fließen, um die Welt zu ändern, so wie in deinem Traum. Vielleicht wird es nur in deinen Adern fließen, und du wirst leben; vielleicht fließt es aber auch in den Schnee … Und vielleicht liegt die Entscheidung darüber bei dir allein. Wenn du beschließt, am Leben zu bleiben, mag das den Tod Tausender bedeuten. Wenn du stirbst, werden
womöglich unzählige gerettet. Vielleicht auch anders herum, wer weiß … Das ist dein Schicksal.«
Maferis erhob sich, die Hände auf dem Rücken verschränkt, nickte und ging in seine Kammer zu-rück. Er hatte es dem Jungen gesagt. Er hatte ihm seine Zukunft gedeutet, so wie er es seit seiner An-kunft geplant hatte. Seine Aufgabe war getan, und vielleicht nur für diese eine Nacht, diesen einen Augenblick, hatte alles in seinem Leben so kommen müssen, wie es gekommen war. Vielleicht war dieser Moment schon alles, was Maferis auf Erden bezwe-cken sollte; und der Gedanke fühlte sich sehr gut an.
Kein Elfenkönig
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