Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
gegenüber und beobachtete ihn.
Soweit Scapa wusste, hatte Maferis sich den ganzen Tag über in seine Schlafkammer zurückgezogen.
Nur einmal war es Scapa gelungen, einen Blick hi-neinzuwerfen, als Maferis nach dem Abendessen hinter seiner Tür verschwunden war. Scapa hatte riesige Berge von Pergament gesehen, einen dunklen Tisch und ein paar Schreibutensilien. Das hieß, dass der Moorelf doch hin und wieder sein Versteck verließ und sich irgendwo Papier, Feder und Tinte besorgte – höchstwahrscheinlich in einer kleineren Menschenstadt jenseits der Berge.
»Morgen müsst ihr gehen«, sagte Maferis jetzt leise.
»Warum?«
Etwas wie ein Lächeln glitt über Maferis’ verunstaltete Züge. »Weil du morgen wieder gesund bist.«
Tatsächlich hatte Scapas Gesundheitszustand in den vergangenen vier Tagen große Fortschritte gemacht. Inzwischen hatte er selbst das Gefühl, dass das schummrige Brummen in seinem Kopf nur noch vom langen Liegen kam.
»Also«, murmelte Maferis. »Du kannst mir jetzt deinen Traum verraten. Ich werde euch alle danach nie wieder sehen.«
Scapa musterte den Moorelf eine Weile. Ihn überkam Mitleid, als er an dessen einsames Leben dachte,
und zur gleichen Zeit … ja, ein Gefühl erfasste Scapa, das er lange, lange nicht mehr bei einem anderen empfunden hatte: ein bisschen Furcht. Da war etwas in Maferis’ Augen, etwas Kühles, Berechnendes, das Scapa bis auf die Knochen zu durchschauen schien.
»Wieso sollte ich dir meine Träume verraten?«, erwiderte Scapa.
Maferis zuckte mit den Schultern. »Mir hat lange niemand mehr seinen Traum erzählt. Und ich habe lange keinen mehr gedeutet. Es würde mich unterhalten.«
Wieder spürte Scapa, wie ihn die Mischung aus Mitleid und Furcht verunsicherte. Er zog unter der Decke die Knie an den Körper und stützte sich mit seinen Armen darauf.
»Du würdest ihn nicht verstehen. Keiner versteht mich.«
Zu Scapas Erstaunen lachte Maferis auf. »Was bist du nur für ein Dramatiker!«
»Was soll das denn heißen?«, fauchte Scapa.
Das Kichern des Moorelfs schwebte im Raum, aber seine Augen blieben kalt und reglos. »Du bist so dramatisch, dass dich der Tod einer Fliege, die du irgendwie gerne hattest, zum ewigen Trauern bringen könnte! Ich kenne Jungen wie dich genau, junger Dieb, auch wenn es nicht viele von dir gibt – das stimmt.« Ein verschwommener Glanz trat in seinen Blick. Es war, als versinke er in fernen Erinnerungen. »Du kannst so schrecklich leidenschaftlich hassen wie lieben, nicht wahr? Etwas dazwischen gibt es
für dich gar nicht. Du verzehrst dich nach etwas mit aller Leidenschaft oder bist so gleichgültig wie ein Stein. Genauso kannst du entweder der glücklichste König der Welt sein oder die kummervollste Kreatur auf Erden und sonst nichts anderes – eben weil du so verflucht tragisch bist mit allem, was dir passiert!
Nur Regen oder Sonne, aber wehe etwas dazwischen!«
Scapa fühlte sich, als hätte der Moorelf einen heiligen Altar in seinem Inneren umgestoßen und entweiht. Und auch jetzt noch tanzte er mit schmutzigen Füßen darauf herum: »Also, Junge, ich kenne dich, ich kenne dich sehr gut. All deine herzzerreißenden Leidenschaften. All das Verzweifeln und Sehnen und Lodern und Glühen hinter deinem bleichen Gesicht, ja, ja, mir kannst du nichts verbergen. Nicht deinen übertriebenen Kummer und auch nicht deine verhei-ligte Liebe.«
Scapas Blick wurde so verächtlich wie nur möglich. »Du hast nicht den blassesten Schimmer.«
Maferis klang nun fast freundlich. »Ach nein?
Beweise es mir. Erzähle mir deinen Traum. Ecrath seyouvdb, verschlossene Seele.«
Nach einigem Zögern beschloss Scapa doch, seinen Traum zu erzählen. Wieso, das war ihm nicht recht klar. Vielleicht erzählte er ihn aus Mitleid für Maferis, vielleicht aus Langeweile, vielleicht … vielleicht, weil er tatsächlich neugierig auf eine Deutung war.
»Na schön. Hier ist mein Traum, reim dir davon
zusammen, was du willst.« Scapa fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Und dann brauchte er doch einen Moment länger, um einen Anfang zu finden.
»Ich stehe am Himmel«, begann er. »Jedenfalls …
ich weiß, dass es der Himmel ist, obwohl alles um mich finster bleibt. Und über mir erstreckt sich die Welt. Ich sehe jemanden, und … es beginnt zu schneien.«
»Zu schneien?«, wiederholte Maferis.
»Ja, es schneit. Doch der Schnee fällt aus dem Boden unter mir in die Höhe. Und dann – jemand steht vor mir. Eine Erinnerung. Und ich
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