Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
Dunkelheit.
»Hast du ein Messer?«, raunte er. Seine Stimme klang schrecklicher als die Laute aller Sterbenden, die Arane je in Kesselstadt gehört hatte. Mit jeder Silbe war ihr, als hauche ein krankes Tier sein Leben aus.
Sie schüttelte den Kopf. Durch die dicken Steinwände drang der Donner.
»Gut«, flüsterte der Schatten. »Niemand darf ein Messer tragen. Nirgends darf ein Messer sein.«
Arane blickte auf den gedeckten Tisch. Eine Vielzahl goldener Bestecke reihte sich neben dem Teller auf. Kleine Löffel, große Löffel, flache Löffel, tiefe Löffel; spitze, lange Gabeln, kurze Gabeln, dreiza-ckige Gabeln, zweizackige Gabeln; Spieße, ein kleines Schlachtbeil. Kein Messer.
Arane sah zum Thron zurück. »Ihr fürchtet Elyor, das Messer der Freien Elfen«, sagte sie leise.
Ein lang gezogenes Stöhnen hallte durch die Räu-me und Korridore des Turms, als es abermals don-nerte. Der Schatten beugte sich vor, unendlich langsam. Das Holz des Throns knarrte. Sein Gesicht tauchte in den blassroten Schein der Kerze und der Schatten verwandelte sich in den König von Korr: ein erschreckendes Gesicht mit blutunterlaufenen
Augen, leeren Wangen und weißen Lippen. Um seine Stirn schmiegte sich wie eine riesige Klaue die Krone der Moorelfen. Er hielt den Kopf schief, ganz so, als sei die Krone ihm zu schwer, um ihn aufrecht zu halten. Noch bevor Arane auffiel, dass er jung war, erkannte sie in seinem verschwommenen Blick den Wahnsinn.
Er war verrückt.
Arane spürte, dass sie bis jetzt nicht einmal geahnt hatte, was Furcht bedeutete. Vor Torron hatte sie Angst gehabt, ja. Aber dass selbst der boshafteste Mensch nicht so gefährlich sein konnte wie ein wahnsinniger, das begriff sie erst in diesem Moment.
Ein Zischen wie von einer Schlange drang aus seiner dunklen Mundöffnung, bevor er zu sprechen begann. »Sag nie wieder … diesen … Namen!«
Sein Blick glühte auf ihr. Noch immer zischend –
vielleicht war es nur sein Atem, der leise pfiff – hob er ein Fleischstück von seinem Teller und steckte es sich in den Mund. Er kaute langsam. »Wie … heißt du?«
»Arane«, sagte sie.
Ein Lächeln glitt über das Gesicht des Königs.
»Ein Name … ist das größte Geheimnis … das man haben kann. Arane … Einen Namen kann man verfluchen!«
Arane sagte nichts. Sie verschwieg, dass Arane der Name war, den sie sich an einem heißen Sommertag vor dem Puppentheater selbst erwählt hatte. Dafür beobachtete sie gebannt das Flackern in den Augen
des Königs. Plötzlich kniete sie vor dem Tisch nieder und sah zu ihm auf.
»Ihr scheint weise zu sein, mein König! Ich be-wundere Euch. Ich will von Euch lernen.«
Sie log besser, als Scapa es je vermocht hatte. Sie log so gut, dass sie selbst ihre Angst vergaß. »Erzählt mir mehr! Erzählt mir, wie ihr Euch die Krone an-eignen konntet. Ich hatte eine Vision«, fügte Arane eifrig hinzu. »Ich weiß, wie das Messer – das schreckliche Messer – Euch nichts mehr anhaben kann, mein König! Doch Ihr müsst mir erst erzählen, wie Ihr die Krone erlangen konntet. Erzählt es mir …
Vertraut mir, mein König!«
Er konnte den Blick nicht von ihren großen, leuchtenden Augen wenden. Nie hatte sie so gut gelogen.
»Vertraut mir!«
Der Donner ließ jeden Stein im Gemäuer erbeben.
»Verratet es mir …«
Die wahre Legende
Eine Weile saß Arane neben Scapa auf dem Boden, und sie rief Fesco zu sich, umarmte beide und betrachtete mit feuchten Augen Fescos verwirrtes Gesicht. Sie murmelte davon, wie sehr er sich verändert habe, und wie froh sie sei, auch ihn wiederzusehen.
Dann ergriff sie die beiden an den Armen. »Ihr müsst halb verhungert sein. Kommt, wir wollen essen!«
Sie standen auf und Arane führte sie in ein großes Kaminzimmer direkt neben der Thronhalle. Über ei-
ner Steintafel, die auf gehauenen Löwenpranken ruhte, entzündeten Dienerinnen den Kronleuchter. Holz-scheite wurden auf die zwei eisernen Drachen gestapelt, die im Kamin standen. Im Nu war das Zimmer in flackerndes Licht getaucht.
»Setzt euch – setzt euch neben mich«, sagte Arane, lief zu einem gepolsterten Thron am Ende der Tafel und befahl den Dienerinnen, die stumm neben der Tür standen, sie sollen noch zwei Stühle holen.
Scapa und Fesco nahmen neben ihr Platz.
»Ihr müsst mir alles erzählen«, sagte Arane. »Alles, was in den drei Jahren geschehen ist. Wie ist es in Kesselstadt?«
Scapa konnte sie eine Weile bloß angucken. Ihr Lächeln war noch so wie früher, aber jetzt
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