Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
und Wurzelgeflecht schmückten die beiden Toten, die auf dem Floß lagen.
Es sah aus, als würden sie friedlich schlafen. Trotz der Verletzungen konnte man sehen, dass das tote Mädchen einmal schön gewesen war, und zwischen ihre Finger und die des Jungen, die einander umschlangen, hatte man eine getrocknete Mohnblume gesteckt.
Der König der Freien Elfen trat mit einer Fackel in das seichte Wasser. Die Wellen schwappten ihm bis zu den Knien, als er das Floß erreichte. Er drehte sich zu den Versammelten um: Es waren nicht viele Elfen anwesend, aber dafür standen ein paar Wildschweine und Hirsche am Ufer. Die Stämme der Wölfe und Gurmenen hatten sich längst wieder in ihre Heimat aufgemacht. Eine Weile schweifte der Blick des Kö-
nigs über die Anwesenden. Dann begann er zu sprechen. »Lasst uns die Toten niemals vergessen. Ihre Taten waren ebenso schrecklich wie tragisch. Ihrer Verbundenheit wegen, die bis in den Tod gehalten hat, wollen wir die Verstorbenen nicht voneinander trennen. Was der eine zerstören wollte, hat der andere
gerettet. Sie gehören zusammen.« Lorgios verstummte und drehte sich um. Leicht führte er die freie Hand an die Stirn und verneigte sich, dann setzte er das Floß in Brand und legte die Fackel auf das trockene Rankengeflecht. Augenblicklich flammten die Kränze auf, Nill bebte. Eine panische Verzweiflung stieg in ihr auf.
»Wartet«, sagte sie. Ihre Stimme war viel zu leise.
»Nein … Wartet!«
Mit zitternden Knien lief sie auf das Wasser zu.
Das Floß war bereits weiter auf den See getrieben.
Sie kämpfte sich durch die eisige Kälte, bis sie die Flammen erreichte. Das Wasser stieg ihr bis zu den Oberschenkeln. Funken stoben ihr entgegen. Durch Feuer und Tränen hindurch konnte sie Scapa sehen.
Er konnte nicht tot sein! Er schlief ganz friedlich, er schlief doch bloß! Sein Gesicht verschwand in der flimmernden Hitze.
Nill zog einen Dolch aus dem Gürtel und nahm ih-re Haare in die Hand. Durch die Menge der Elfen ging ein überraschtes Raunen, als sich Nill die Haare abschnitt: Niemand hatte von ihren Gefühlen gewusst. Niemand außer Kaveh.
Schluchzend warf Nill ihre Haare ins Feuer. Sie kringelten sich zusammen und verglühten knisternd.
Das Floß trieb davon. Die Hitze des Feuers wallte Nill ein letztes Mal entgegen, ihr kurzes Haar flatterte ihr ums Gesicht. Immer höher stiegen die Flammen. Längst konnte man zwischen ihnen nichts mehr erkennen.
Nill blieb im Wasser stehen und beobachtete, wie das Floß in Funken aufstob und verbrannte.
Nach dem Tod des Weißen Kindes hatte die Schlacht ein abruptes Ende gefunden. Die Grauen Krieger lie-
ßen ihre Waffen sinken und fielen auf die Knie. Sie weinten, weil sie frei waren, und sie weinten, weil die Krone Elrysjar und das magische Messer, die Krone Elyor, ihre Macht verloren hatten. Der größte Zauber des Elfenvolkes hatte sich aufgelöst und selbst zerstört, er war verraucht wie ein Geist und würde nie wieder zurückkehren.
Der König der Freien Elfen hielt beide Kronenhälften in den Händen. In dem Augenblick, da das steinerne Messer den Kronenträger getötet hatte, hatte es sich in die Kronenhälfte Elyor zurückverwan-delt. Nun waren beide Hälften nicht mehr als ein zer-brochener Stein.
Mit einem letzten Seufzen ließ Lorgios die beiden Steinkronen in die Erdmulde sinken. Dann häufte er das kleine Loch im Boden wieder zu und strich die dunkle Erde darüber glatt. Über ihm rauschten die Zweige einer alten, hohlen Birke. Die ersten Blätter waren an den Zweigen gesprossen. Ein warmer Wind strich durch die Baumkronen. Es war Frühling geworden.
Mit einem Ächzen stand Lorgios auf und strich sich die Hände sauber. Sein jüngster Sohn stand neben ihm. Obwohl er nie die Krone Elyor tragen würde wie einst Lorgios, würde er doch König werden. Es würde
eine harte Probe für ihn werden. Seine Führung musste so stark sein, dass alle Elfenstämme ihm treu blieben, auch ohne Zauber. Aber Lorgios war zuversichtlich. Kaveh hatte genug Temperament und Herz, um die Elfen der Dunklen Wälder zusammenzuhalten.
Schweigend gingen die beiden los. Der Wald war nach dem langen Winter dabei zu erwachen. Die Vogelrufe kamen Lorgios klarer und schöner vor denn je. Er atmete tief die frische Luft ein. Aber so kam es ihm immer vor, wenn ein neues Jahr anbrach. Alles schien reiner und unberührter als im Jahr zuvor.
»Es ist schon so«, sagte Lorgios, während sie unter den dunkelgrünen Schatten dahinwanderten. »Die
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