Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
knarrten.
Agwin trat ein. Sie setzte sich an den Tisch und begann, das Huhn zu rupfen. Nill drehte sich nicht zu ihr um, obgleich sie Agwins Blick im Rücken spürte.
Agwin beobachtete sie so oft es ging bei der Arbeit, um irgendwelche Fehler zu entdecken – dann schimpfte sie furchtbar, bis sie verbissen den Mund zusammenkniff und sich selbst bedauerte.
Die Bitterkeit war es, die Agwin älter erscheinen ließ, als ihre Jahre zählten. Sie hatte gelernt, alle Un-gerechtigkeiten des Lebens mit der Gewissheit ihrer eigenen Unschuld zu ertragen: dass die Götter ihr nie
ein Kind geschenkt hatten, dass ihr das Bastardmädchen aufgehalst worden war, dass sie einen Mann ohne Ehre geheiratet hatte … All dies erduldete sie mit tiefer Selbstzufriedenheit. Opfer eines Unrechts zu werden, gab ihr beinahe Bestätigung, denn sie genoss ihre heimliche, süße Unschuld. Und weil sie die Einzige war, die von der Größe ihres eigenen Opfers zu wissen schien, sammelte sich jeder zurückgehal-tene Zorn in ihrem Inneren zu einem harten, festen Knoten.
Nill hatte das Feuer angemacht. Fröhlich fraßen sich die Flammen am Holz entlang und züngelten schon bald am Kessel empor, in den Nill das Wasser goss.
»Putze die Karotten und dann schneide sie ins Wasser«, befahl Agwin.
Nill tat, wie ihr geheißen wurde, und setzte sich gegenüber von Agwin an den Tisch. Die Federn tanzten um Agwins verbissenes Gesicht, während ihre Hand riss und rupfte, als führe sie einen stummen Kampf mit dem Gefieder aus. Nill ergriff ein plötzliches Bedauern für das Huhn – sie hatte es heute Morgen bestimmt noch gefüttert – und für jede einzelne Feder, die Agwin so mitleidslos herausriss.
Soweit Nill sich erinnern konnte, hatte sie sich nie für Agwins leibliche Tochter gehalten. Ihr war lange nicht in den Sinn gekommen, dass sie eine Mutter haben musste, und später, als ihr dieser Gedanke doch kam, hatte man ihr erklärt, dass ihre wahre
Mutter eine Wilde gewesen sei, die sie vor den Toren des Dorfes zurückgelassen hatte.
Aber einen Vater zu haben, hatte Nill lange geglaubt. Im Nachhinein machte es natürlich keinen Sinn, da er doch mit Agwin verheiratet war. Trotzdem hatte Nill in ihm stets das Gesicht ihres Vaters gesehen.
Grenjo war ein stiller, großer, gebeugter Mann mit den Augen eines erlegten Bären, in denen selbst nach dem Tod noch die Traurigkeit eines ganzen Lebens schwimmt. Dachte Nill an Grenjo, so kamen ihr zuerst seine Hände in den Sinn, wie er sie im Schoß zu falten pflegte, nachdenklich und bedacht, zwei schwielige Pranken voller Risse. Sie musste an einen warmen Tag im Herbst denken, an dem sie neben ihm vor dem Haus gesessen und das Dorf im Sturm der bunten Ahornblätter beobachtet hatte. Damals hatte sie schon gewusst, dass er nicht ihr Vater sein konnte. Und trotzdem schien er ihr so ähnlich, so verwandt, dass es wehtat!
»Ich wünschte«, hatte Nill mit klopfendem Herzen gesagt, »ich wüsste wenigstens, wie meine Mutter gewesen ist. War sie wirklich nur eine Wilde, die ihr eigenes Kind verstoßen hat?« Sie schielte zu Grenjo hinüber und versuchte eine Regung in seinem Gesicht zu erkennen. Aber es blieb im warmen Schein der Sonne so traurig wie immer.
»Ich glaube«, sagte er nach einer Weile, »dass sie nicht nur wild war. Ich glaube, dass sie eine Frau gewesen ist, die einen Mann unseres Dorfes geliebt
hat – trotz des Hasses zwischen unseren Völkern. Ich glaube … sie hatte grüne Haare wie du. Sie haben im Sonnenlicht geleuchtet wie das Laub der Buchen im Frühling, so wie bei dir. Bestimmt war ihr Lachen warm und schön. Ich glaube, dass sie sehr schön war.«
Nill hatte Tränen in den Augen gehabt. In diesem Moment war sie sich sicher gewesen, dass Grenjo ihr Vater war, der Mann, der ihre Mutter geliebt hatte –
ganz gleich, was Agwin sagte – ganz gleich, ob er verheiratet war! Aber Nill traute sich nie, ihn wirklich zu fragen. Und wenn sie es getan hätte, das wusste sie, hätte Grenjo sie nur angesehen, so gedankenversunken und verloren wie immer, und kaum merklich den Kopf geschüttelt.
Entdeckt
Der Mond stand bereits am Himmel, als sie von draußen schwere Schritte hörten. Die Tür öffnete sich und eine große Männergestalt erschien in der Küche.
Agwin, die gerade am Herdfeuer gestanden und die Hühnersuppe probiert hatte, drehte sich um und betrachtete ihren Mann einen Augenblick von oben bis unten.
»Wo warst du?«, fragte sie spitz.
»Holzhacken«, murmelte Grenjo. Er kam
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