Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
eins mit dem Licht!
Nill reckte die Arme in die Höhe und beobachtete, wie die Sonne ihre Hand umfloss. Wie ein goldenes Band zog es sich um ihre Finger. Dann ließ sie die Arme hinter den Kopf sinken und atmete tief ein. Es roch nach Moos und Baumharz und der Wärme eines endenden Sommertages.
»Nill!«, hallte es durch den Wald. Und lauter:
»NIIILL!«
Nill fuhr zusammen. Binnen eines Wimpernschlags war sie aufgesprungen, ihre Träume und das Sonnenlicht und alle Zukunftsgedanken waren zer-stoben. Hastig ergriff sie die beiden Wassereimer, die an den Wurzeln einer Zeder standen, und lief los.
Sie hätte nicht so lange trödeln dürfen. Vor einer halben Stunde war sie losgegangen, um Wasser vom nahen Fluss zu holen, und sie hätte schon lange wieder zurück sein müssen.
»NILL!«
Nills Herz zog sich zusammen. Eilig lief sie über Moos und Wurzeln und Gestein, bedacht, dabei das Wasser nicht zu verschütten. »NIILL!«
»Ich komme!«, japste sie, sprang über Steine und einen umgestürzten Baumstamm, wich dem Dornen-gestrüpp aus, das zwei verschlungene Eichen umwu-cherte, und duckte sich unter den Zweigen der Fichten hindurch. Plötzlich blieb ihr Fuß unter einer Wurzel stecken. Sie stieß einen verblüfften Schrei aus, die Eimer rutschten ihr aus den Händen. Kaltes Wasser ergoss sich über ihren Rock, als sie auf die Knie fiel. Aber noch bevor sie einen Laut von sich geben konnte, erklang ein seltsames Rumpeln. Stöhnend drehte sie sich um.
Die Wurzel, über die sie gestolpert war, hatte sich aus dem Boden erhoben: Tatsächlich, Erdklumpen und Steinchen rieselten von ihr herab! Aber das seltsame Grummeln kam nicht von der Wurzel. Sondern aus der Birke vor Nill.
Erschrocken und auf allen Vieren wich sie vor dem grollenden Baum zurück. Blätter und kleine Zweige segelten herab und fielen auf Nills Kopf. Mit einem Knarren öffnete sich die weiß- und schwarz-scheckige Rinde des Stammes. Der Riss wuchs und wuchs wie von Zauberhand, bis sich die Birke in ihrer Mitte zu einem finsteren Schlitz gespalten hatte.
Dann erst verebbte das Ächzen des Holzes; nur ein leises Rumoren, kaum hörbar, hallte in die Tiefen der hohlen Birke zurück.
Nill hatte sich von ihrem ersten Schrecken erholt.
Mit klopfendem Herzen starrte sie auf den Baum, der sich vor ihr geöffnet hatte.
War sie verrückt? Sie rieb sich mit dem Handrü-
cken über die Augen und sah noch genauer hin. Aber es bestand kein Zweifel: Da klaffte ein Spalt in der Birke, der zuvor nicht gewesen war.
»Das ist unmöglich!«, flüsterte Nill. Doch noch während sie es sagte, näherte sie sich der Birke auf Händen und Knien. Tausend Geschichten kamen ihr gleichzeitig in den Sinn. Legenden, Märchen und Abenteuer fingen damit an, dass ein mutiger Held etwas Außergewöhnliches fand. Aber Nill war keine Heldin, und ihr Leben war auch bestimmt keine Legende – es war stinklangweilig! Trotzdem kamen ihr in Sekundenbruchteilen neue Vorstellungen davon, was sie in dem hohlen Baum erwarten mochte … ein Schatz … ein gefangener Geist … eine neue Welt …
Bebend streckte sie die Hand aus. Aus der Finsternis der Birke blitzte ihr etwas entgegen. Ihre Finger fuhren durch den Spalt, ertasteten die feuchte Kühle des hohlen Baumstammes …
Und nichts. Sie fühlte einen modrigen Boden und wurmzerfressene Wände. Hastig zog Nill die Hand zurück und spürte, wie die Enttäuschung Besitz von ihr ergriff. Was hatte sie sich bloß gedacht: dass ein hohler Baum sich öffnen würde, damit sie ein Abenteuer erlebte?
»NILL!«
Sie besann sich bei diesem Ruf, der mittlerweile ziemlich wütend klang, und stand mühevoll auf. Jetzt hatte sie einen Eimer verschüttet, und ihr Rock war nass. Innerlich verfluchte sie die Wurzel.
Nill wollte gerade die Eimer aufheben und losgehen, da zögerte sie noch einmal. Es war, als ziehe sie ein unsichtbarer Faden zum Baum zurück … Geh nicht!
Dreh dich um … Hast du nicht etwas blitzen gesehen?
Ein zweites Mal streckte sie die Hand durch den Spalt im Baum. Ihre Finger fassten in Finsternis. Und ergriffen einen unebenen Gegenstand.
Verdutzt starrte Nill das Ding an, das plötzlich in ihrer Hand lag. Es sah aus wie ein schwarzer, schlanker Dorn aus Stein. Der Dorn glänzte an seinen Kanten und Unebenheiten und Nill erkannte mit einem Mal, dass er etwas Besonderes war. Etwas Bedeutsames.
Ohne nachzudenken, schob Nill sich den Steindorn in die Rocktasche. Rasch ergriff sie die Wassereimer, schüttelte das Bein, sodass der
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