Nuyen, Jenny-May - Nijura, das Erbe der Elfenkrone
nasse Rock ihr nicht mehr auf der Haut klebte, und lief los.
Mit jedem Schritt spürte sie, wie ihr der lange Stein gegen die Hüfte schlug. Ihre Gedanken flirrten.
Wieso hatte sie ihn bloß mitgenommen? Je weiter sie lief, desto deutlicher erkannte sie, dass das Gefühl, das der Steindorn hervorgerufen hatte, eine Vorahnung war. Eine unbestimmte dunkle Vorahnung.
Schauder rieselten ihr zwischen den Schulterblättern herab. Plötzlich schien es kühl geworden zu sein, die Sonne war untergegangen. Rauschende Winde brausten durch die Baumkronen und ließen Blätter in der Luft tanzen. Ihr war, als höre sie verzerrte Stimmen im Flüstern des Laubes – aufgeregte, tuschelnde, rufende Stimmen. Warnende Stimmen.
Bald lichteten sich die mächtigen Bäume und ein Haus trat aus dem Grauschimmer der Dämmerung.
Eine hagere Frauengestalt stand in dem Hof, der Haus und Bäume trennte, und starrte in den Wald.
Ihre Hand umschloss den Hals eines toten Huhns.
»Nill!«, zeterte sie, als das Mädchen aus der Dunkelheit des Waldes auftauchte. »Wo bist du solange gewesen?«
Nach Luft ringend blieb Nill stehen und stellte die Eimer ab. »Entschuldige, Agwin«, sagte sie und fuhr sich mit der Hand über den feuchten Rock.
Agwin war eine knochige Frau, die trotz ihrer dichten blonden Haare alt wirkte. In ihrem Haus war Nill aufgenommen worden. Denn Nill lebte nicht bei ihren Eltern – sie wusste nicht mal, wer sie waren.
Ihr Vater musste ein Mann des Dorfes sein, doch er hatte sich nie zu erkennen gegeben. Und ihre Mutter war eine Elfe.
Ja, Nill war halbelfisch. Ein Kind der Wilden für die Menschen und ein Kind der Barbaren für die Elfen. Eines Tages hatte man vor den Toren des Dorfes einen Säugling gefunden, gewickelt in die Stoffe des Elfenvolkes. Man hatte sich das Kind angesehen, seine grünbraunen Haare, die hellen Augen, die für einen Menschen viel zu groß waren, die zarten Knochen, die kein Menschensäugling hatte, und die Ohren, nur eine Spur zu spitz, um normal zu sein. Und man hatte sofort erkannt, dass es ein Bastard war.
Und doch, aufgrund der Barmherzigkeit der Menschen, die, wie Agwin immer wieder betonte, dem
Elfenvolk schlichtweg fehle, hatte man Nill aufgenommen, und Agwin zog sie groß wie ihr eigenes Kind. Vielleicht stimmte das auch – womöglich hätte Agwin ihre eigene Tochter genauso behandelt wie Nill, hätte sie leibliche Kinder gehabt.
Nun musterte Agwin Nill mit dem verächtlichen Mitleid, das ihr so vertraut und zuwider war. Sie folgte Agwins Blick, der langsam an ihr hinaufwan-derte, und strich sich hastig die Blätter und Moosstückchen aus den Haaren. Dann fiel Agwin auf, dass nur einer der beiden Eimer voll war.
»Was soll das sein?«, fragte sie scharf. Ihr Zeigefinger deutete auf den leeren Eimer und das tote Huhn in ihrer Faust schwenkte auf Nill zu.
»Ich bin hingefallen. Soll ich vielleicht noch einmal zurücklaufen und –«
»Es ist schon dunkel, du dummes Ding!« Agwin kniff die schmalen Lippen zusammen und blinzelte Nill an, wie sie es immer tat, wenn sie wütend war.
»Du bist zu nichts fähig! Du – du faules Stück treibst dich im verwunschenen Wald rum, wie es dir gerade passt!«
Nill hob die Eimer hoch und wandte sich in Richtung Haus. »Ich setze das Wasser auf.«
»Das ist das verfluchte Elfenblut«, zischte Agwin und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen.
Nill erwiderte nichts darauf. Sie hatte es nur einmal getan, vor Jahren; da hatte Agwin wegen einer Nichtigkeit mit ihr geschimpft und sie ein verfluchtes Elfenblut genannt. Nill hatte sich nicht zurückhalten
können – sie war aufgesprungen und hatte gesagt:
»Mir scheint, nicht das Elfenblut, sondern das Menschenblut hat mich verdorben!« Daraufhin hatte Agwin ihr zwei kräftige Ohrfeigen gegeben. Seitdem ließ Nill Agwin schimpfen, wie sie wollte. Schließ-
lich war sie nicht die Einzige, die sie grob behandelte.
Nill schob die schwere Hintertür auf und betrat ei-ne Stube. Das Haus war einstöckig, wenn man von der kleinen Dachstiege absah, und stützte sich auf seine Holzbalken wie ein Greis auf seine Krücken.
Trotzdem hatte es mit seinem Strohdach und dem schiefen Kamin etwas Friedliches und Einladendes.
Die Fenster waren sehr klein, darum lagen die Zimmer in dämmriger Dunkelheit.
In der Küche, die der größte Raum des Hauses war, stellte Nill die Eimer ab und machte sich daran, das Herdfeuer zu entfachen. Während sie die Holz-scheite aufstapelte, hörte sie, wie die Dielen
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