Nybbas Nächte
Ritual auch sein mochte.
In Nicholas’ Gesicht wirkten die Zeichen wie eine grimmige Kriegsbemalung, und passend zu dieser legte er nun den Ausdruck von Trauer ab. Er fuhr sich über die Augen und wischte ihn einfach fort. Seine Züge wurden entschlossen.
Doch er stand nicht auf, stattdessen ließ er den Kopf auf die Brust des Toten sinken. Im gleichen Moment wallte eisige Kälte durch den Raum und der Nybbas erhob sich aus Nicholas’ Körper.
Joana wich vor ihm zurück, als er sich materialisierte. Immer noch erfüllte sie es mit Entsetzen, das Monster unvermittelt zu sehen, und sie schämte sich dafür. Das Mädchen, aus dessen Waffe der tödliche Schuss gefallen war, kreischte panisch. Sie presste sich in den hintersten Winkel, das Gesicht verzerrt, die Waffe erhoben, und hörte nicht auf, hysterisch um ihr Leben zu flehen. Der Nybbas trat gemächlich auf sie zu.
„Nein!“ Joanas Schrei gellte durch den Raum. „Nicholas, nicht! Das nützt ihm nichts mehr. Sind heute nicht genug gestorben?“
Er durfte diesem Mädchen nichts antun. In mechanischen Bewegungen, zu denen sie sich nicht bewusst entschloss, hob sie die Hände, ließ die Pistole fallen und bereitete sich auf die Cisto-Glyphe vor, mit der sie ihn zur Bewegungslosigkeit zwingen konnte.
„Ich tu es!“, brüllte sie. „Hör auf! Ich banne dich, wenn ich muss!“
Er drehte sich nicht zu ihr um, er hob nur die Arme, die Handflächen nach oben. Joana wusste nicht, was die Geste bedeutete. Ich vertraue dir? Oder: Tu, was du tun musst?
Sie wusste nicht, was sie tun musste. Alles, was hier geschehen war, war falsch. Egal was sie tun oder nicht tun würde, es lief unweigerlich auf einen erneuten Fehler hinaus. Es gab nur noch Fehler.
Joana ließ die Hände sinken.
Doch zu ihrer Überraschung trat der Nybbas auf Demjan zu und neigte vor ihm den Kopf. Es schien, als spräche er still zu dem anderen Dämon, und dieser lächelte, wenn auch bitter.
Erleichterung überkam sie. Es war kein Angriff, sondern ein Symbol. Sie hätte es als ein Zeichen von Vertrauen benannt, wenn das Wort nicht so deplatziert zwischen all den Toten stünde.
Allerdings überstand ihre Erleichterung nur wenige Sekunden. Denn das weiße Rauschen kehrte in Joanas Kopf zurück. Lag es daran, dass sie versucht hatte, ihren Geist zu klären, um notfalls den Bann sprechen zu können? Blitzartig überkam sie die Erkenntnis, dass dieser Zustand sie vermutlich angreifbarer machte. Doch es war zu spät, das Rauschen legte sich bereits über ihr Bewusstsein. Sie mühte sich damit ab, den anderen eine Warnung zuzurufen, doch schon schien sich alles zu drehen. Sie kippte auf die Knie. Plötzlich spürte sie Stein, über den ihre Fingernägel kratzten, dann den Griff der Pistole wieder in der Hand. Kaltes Metall. Sie sah, wie sie zielte. Auf eine dunkle Silhouette. Vor ihr drehten sich Demjan und Nicholas zu ihr um. Ihre Hand zitterte. Und dann versank ihre Welt im Strudel einer Illusion, in der sie nicht mehr länger sie selbst war.
25
D
er Nybbas fauchte, als ein Schuss ihn streifte. Jeder Instinkt brüllte danach, den Angreifer in Fetzen zu reißen. Er brauchte seine ganze Kraft, um sich bewusst zu machen, dass die Angreiferin Joana war, seine Joana. Und noch mehr Kraft, um sich zu überzeugen, dass er ihr nichts antun durfte. Sie war zu einer Marionette der Speculara geworden, und die Fäden waren seine eigenen Fähigkeiten der Manipulation, die die Dämonin über sein Blut in sich aufgenommen hatte.
Mit einem Sprung war er bei ihr, presste sie mit den Unterarmen gegen seine Brust, um sie mit den Klauen nicht zu verletzen, ihr aber auch keinen zweiten Schuss zu ermöglichen. Sie kämpfte, es war anzunehmen, dass sie in ihm jemand anderen sah. Schrie ihre Zauberformeln. Schlug nach ihm. Sie biss in seine Schulter, bis Blut hervortrat. In seinen Armen tobte ein Feuerwerk an wilden, frei gelassenen Emotionen. Und er war hungrig. Ihr Geschmack war überall, umwarb ihn und reizte seine Gier auf unerträgliche Weise.
Er hörte sie röcheln und bemerkte zu spät, dass er sie viel zu brutal an sich drückte. Doch sie gab nicht auf, und ihm kam nur eine Idee, sie ruhigzustellen, ohne ihr zu schaden. Für den Bruchteil einer Sekunde wurde er zu Schatten. Es gelang ihr, die Arme zu heben und ihre Glyphe in die Luft zu zeichnen. Doch ehe sie sie vollenden und ihn bannen konnte, hatte die Berührung seines Astralkörpers ihr bereits das Bewusstsein entzogen. Warum sie durch seinen Schattenleib
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