Nybbas Nächte
wardas widerliche Ding zu ihrem Talisman geworden. „Gute Nacht, John-Boy“, murmelte sie und zog den Reißverschluss über der Fratze zu.
Noch hatte sie sich nicht wirklich mit dem Gedanken angefreundet, in der nächsten Zeit aus dem Koffer zu leben, aber es erschreckte sie nicht mehr. Zumindest musste sie dieses Mal nicht von einer auf die andere Minute aus einem beschaulichen Leben in eine ungewisse Zukunft fliehen.
Ein Blick aus dem Schlafzimmerfester offenbarte einen wolkenverhangenen Nachmittagshimmel, der ihre Pläne für den Abend bedrohte. Doch sowohl der bei Regen menschenleere Strand als auch die anschließenden Stunden auf der Couch vor dem offenen Feuer hatten ihren Reiz. Sie ging nach unten, griff nach dem Handfeger und einem Eimer und kniete sich vor den Kamin. Wenn sie ihn heute anfeuern wollte, musste sie ihn wohl oder übel zunächst ausfegen. Kurz überlegte sie, die Arbeit an Nicholas abzutreten, verwarf den Gedanken aber. Er regelte schon alles Notwendige in der Werkstatt. Sie hatte es nicht über sich gebracht, hinzugehen und das Wissen mitzuschleppen, zum letzten Mal dort zu sein. Vor André Bergot einen weinseligen Abschied hinzulegen war inakzeptabel. Nachher würde der alte Kauz noch mitheulen – das würde ihr wirklich das Herz brechen.
Joana grübelte, wohin sie gehen konnten. Sie hatte wenige Stunden zuvor Frankreich vorgeschlagen, aber auch das war eine Übergangslösung. Mit einem Stückchen verkohlten Holz zog sie Striche auf die rötlichen Bodenfliesen vor dem Kamin, zeichnete die Umrisse Europas und malte die Wege nach, auf denen sie reisen könnten. Ihre Gedanken machten sich auf und davon, folgten den schwarzen Linien. Keine führte in eine Gegend, die Sicherheit versprach. Nicholas’ Verfolger und deren Vasallen konnten überall sein. Sie lauerten irgendwo dort draußen, schwärmten aus und suchten nach ihnen. Vermutlich war es nur eine Frage der Zeit, bis sie sie erwischten. Was dann geschehen sollte, wollte Joana nicht wissen. Sie fragte sich, ob sie all das bereute. Von dem stillen Zweifel beschämt biss sie sich auf die Lippe.
„Gar nichts bereue ich“, sagte sie zu sich selbst. Nicholas hatte ihr Leben völlig umgekrempelt, sicher. Doch dieses Leben war von Grenzen bestimmt gewesen; von einer Kontinuität, die sie nervte, und elender Langeweile. Inzwischen war sie auf der permanenten Flucht an der Seite eines Mannes, in dessen Innerem sich ein düsterer Schatten, ein blutrünstiger Dämon sowie ihr sensibler Liebhaber und bester Freund aneinander pressten.
Es war in Ordnung. Nein. Es war perfekt. Ein ruhiges Leben war an seiner Seite nicht möglich, aber sie würde sich nie wieder langweilen, oder Gleichgültigkeit sich selbst gegenüber empfinden. Wie seltsam, dass ausgerechnet ein Dämon beweisen musste, wie wichtig ihr das Leben war.
Sie sah auf die Kacheln, auf denen sie noch immer gedankenverloren mit dem Kohlescheit herumgekritzelt hatte. Neben der Karte war ein zweites Bild entstanden. Sie hatte seit einer Ewigkeit nicht mehr gezeichnet, doch diese Skizze war auf Anhieb gelungen. Nicholas’ Profil. Eine markante Kinnpartie, schmale Lippen und scharfe Wangenknochen, während die Züge um die Augen sanft erschienen. Eine Haarsträhne hing in der Stirn und ein paar Bartstoppeln zierten Kinn und Oberlippe. Über dem Profil prangte ein zweites. Wie ein Heiligenschein umschattete es sein Porträt. Harte Linien diesmal. Dunkle Haut. Schwarze Höhlen an den Stellen, wo man Augen vermutete. Nicht zu vergessen die Reißzähne und die Hörner, fast verborgen unter filzigem Haar.
Kurz war Joana versucht, die Kohlestriche mit dem Handfeger zu verwischen, doch sie tat es nicht. Es war ihre erste Zeichnung, seitdem Sascha ermordet worden war und sie die Malerei aufgegeben hatte. Sie war erschreckend, aber zugleich wunderschön. Es gelang ihr nicht, die Augen abzuwenden.
Erst als sie ein Motorengeräusch vernahm, schreckte sie aus ihren Träumereien. Rasch wischte sie die Skizze mit der Handfläche fort und schloss die Faust, als könnte sie das Bild mit dem Kohlenstaub noch ein wenig festhalten. Im nächsten Moment registrierte sie, dass es kein Automotor war, den sie hörte. Es klang nach einem Motorrad, eher noch waren es zwei oder mehr. Joanas Puls beschleunigte sich. In dem Augenblick, als die Maschinen vor dem Haus verstummten, sprang sie auf die Füße und eilte auf Zehenspitzen zur Tür. Ein Blick durch den Spion ließ sie schaudern. Draußen bockte ein
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