Nybbas Nächte
unter ihren Füßen weich zu werden.
Atemlos ließ sie sich auf eine Sessellehne sinken. Nun brauchte sie ihr Asthmaspray, nahm tiefe Züge und brachte ihren rasenden Puls wieder unter Kontrolle.
„Oh Gott“, keuchte sie. „Wird mich das jedes Mal so umhauen?“
Rut lachte herzlich. „Diese jungen Dinger heutzutage vertragen aber auch gar nichts. Du wirst dich schon daran gewöhnen.“
Joana staunte über die Schönheit der kargen Natur zu beiden Seiten der Straße. Als sie aufgebrochen waren, hatte sie ans Steuer gewollt, doch nun begriff sie offenbar, warum er darauf bestanden hatte, selbst zu fahren. Nicholas kannte sie gut genug, um zu wissen, dass sie sich an dem Schauspiel nicht sattsehen konnte. Die Sonne versank glühend am Horizont und goss lebendiges Burgunderrot über die Lavawüste und die von bräunlichen Flechten bewachsenen Hügel. Seen und Flüsse quollen wie blutende Wunden aus den Senken, heiße Quellen hauchten rosafarbenen Dampf in die kalte Luft.
Nach der etwa einstündigen Fahrt parkte er den Wagen am Eingang von Demjans Grotte. Er hatte den Motor noch nicht abgeschaltet, da huschte Joana bereits aus dem Auto. Sie zog sich die Wollmütze über die Ohren und zupfte den Schal über ihren Mund, sodass nur ein schmaler Streifen ihres Gesichts zu sehen war. Ihr Atem kam flach, was wohl an der Kälte lag, mit der ihre Bronchien Probleme hatten. Auffrischender Wind riss an ihren unter der Mütze heraushängenden Haaren. Wie immer senkte sie den Kopf, sobald sie den Wagen verließ, und sah sich aus weit geöffneten Augen um, die Lider so weit hochgeschlagen, dass ihre Wimpern beinahe die Brauen berührten. Der übliche Ausdruck von leichtem Misstrauen prägte ihr Gesicht und man konnte meinen, sie würde lieber einen Schritt zurückmachen, um größeren Abstand zu halten. Abstand zu was auch immer. Eigentlich zu allem.
Sie herzubringen war eine dumme Idee gewesen. Zu gefährlich. So harmlos und idyllisch das Land sich gab, in kurzer Zeit würde es in die eisige Finsternis der Nacht getaucht sein. Finsternis, die Joana nicht umgeben sollte, weil sie zu weich war, um ihr standzuhalten. In Nicholas flackerte das dringende Bedürfnis, sie unter seiner Jacke zu verstecken und sie dorthin zu bringen, wo es warm und sonnig war. Andererseits war ein geschäftstüchtiger Dämon mit Wohltäter-Ambitionen vielleicht genau das, was sie erleben sollte, um die Befangenheit abzulegen, mit der sie seine Welt und manchmal auch ihn selbst betrachtete.
Ihre Finger waren eisig, als er sie ergriff, um sie ins Innere der Höhle zu führen. Ganz gewiss hatte sie Angst, aber das ließ sie ihn nicht spüren. Als Clerica war sie in der Lage, ihm ihre Gefühle vorzuenthalten, wenn sie es darauf anlegte. Er hatte ihr von der Extravaganz dieses Ortes berichtet, sie staunte dennoch, und beim Aufleuchten der Lichter im Tunnel zuckte sie zusammen. Er klopfte und Joana schob ihre Hände tief in die Taschen ihres Mantels.
Das Tor wurde von demselben Mann wie am Vortag geöffnet. Zwischenzeitlich hatte Nicholas erfahren, dass er Tomte hieß. Als er Joana erblickte, verdüsterte sich sein Blick.
„Tut mir leid, Nicholas, aber sie wird draußen bleiben müssen. Wir dulden hier keine Inanen, Befehl vomBoss.“
„Sie ist keine … Inane.“ Das letzte Wort spuckte Nicholas regelrecht aus.
„Sondern?“
Joana setzte ein kühles Lächeln auf. „Seine Leibwächterin.“
Nicholas musste sich ein Schnauben verkneifen. Sie machte einen Schritt vor und hielt Tomte die Hand hin.
„Joana. Freut mich, Sie kennenzulernen.“
Bodyguards legten für gewöhnlich ein anderes Verhalten an den Tag. Tomtes Blick glitt an ihr auf und ab, als schätzte er, ob dieser weiche, zutiefst weibliche Körper in der Lage zu einem ernsthaften Kampf sei. Definitiv nicht, aber ob sie unter ihrem Mantel weiche Kurven oder Muskeln verbarg, ließ sich schwer erkennen. Tomte zuckte mit den Schultern. Er packte ihre Hand in einer so schnellen Bewegung, dass sie nicht zurückweichen konnte, selbst wenn sie gewollt hätte, und schüttelte sie.
„Tomte“, stellte er sich vor. „Zu Ihren Diensten.“
Damit öffnete er das Tor gänzlich. Er verneigte sich sogar, als sie an ihm vorbeitraten. Joana beachtete die luxuriöse Architektur und Einrichtung kaum, die Halbdämonen dafür umso genauer. Wieder standen sie in menschlicher Gestalt in den Gängen, immer in kleinen Grüppchen eng beisammen. An diesem Tag verströmten sie weniger Angst und Misstrauen,
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