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Nybbas Nächte

Nybbas Nächte

Titel: Nybbas Nächte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jennifer Benkau
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haben durftest, habe ich recht?“
    Rut stieß einen kleinen, qualerfüllten Laut aus, doch sie schüttelte rasch den Kopf, als wollte sie den Schmerz nicht tiefer dringen lassen. „Es war in den Siebzigern, ich hatte eigentlich Glück. Es ist noch nicht lange her, da war eine solche Operation noch gefährlich und viel schmerzhafter. Es tat nur ein paar Tage weh.“
    Ruts Lüge ließ Joanas Augen brennen. Wie barbarisch. Die alte Frau litt bis heute darunter. Mitfühlend legte sie ihre Hand auf Ruts knochige Finger. „Es tut mir sehr leid.“
    „Ich weiß. Es ist nicht so, dass ich die Gründe der Clerica nicht nachvollziehen kann. Ich weiß von Sunna, wie grausam Nekromanten sein können. Dieses Versklaven der Dämonen ist die wahre Grausamkeit und macht sie erst gefährlich. Es wäre das Beste, wenn man verhindert, dass weitere Menschen die Macht dazu bekommen. Und trotzdem …“ Rut schüttelte den Kopf, als untersagte sie sich, zu viele ihrer Gefühle preiszugeben. „Ich bete, dass dir nicht das gleiche Schicksal zustößt. Du musst sehr vorsichtig sein, Joana. Sie dürfen dich nicht in ihre Hände bekommen, versprichst du mir das?“
    Sie fühlte sich wie unter Wasser gedrückt. „Ich verspreche es“, antwortete sie mechanisch. Gedanken prasselten mit ohrenbetäubender Lautstärke auf sie ein. Eine höhnische innere Stimme erhob sich. Wer ist hier barbarisch? Wärst du früher in die Hände der Clerica gelangt, hätten sie verhindert, dass du dein Kind getötet hast!
    Gleichzeitig stiegen Erinnerungen an ihre Tante Agnes in ihr auf. Agnes, die Joana in ihrer Kindheit behandelt hatte, als wäre sie ihre Tochter und nicht ihre Nichte. Agnes, die nie Kinder geboren hatte. Aber auch Agnes, die sie aller Familienbande zum Trotz kaltherzig vor den Rat der Clerica schleifen und für ihren Verrat bestrafen lassen wollte.
    Von ihren Erinnerungen bedrängt, glaubte sie, in dem muffigen Zimmer nicht mehr atmen zu können. Sie stürzte ans Fenster, sog die kalte Luft tief in die Lungen und nutzte eine Atemtechnik, die einen drohenden Asthmaanfall verhindern sollte.
    „K-können wir bitte weitermachen?“, stammelte sie, nachdem sie sich gefangen hatte. Die Sorgen drängte sie krampfhaft wieder in eine schattige Gasse ihres Inneren, wo sie ihre finsteren Drohungen versprühen konnten, ohne dem Rest ihres Bewusstseins zu nahezutreten.
    Der nächste Versuch, sich auf das Leeren ihrer Gedanken zu konzentrieren, wurde durch Sunna vereitelt, die mit dem dicken Hund an der Leine und zwei großen Einkaufstaschen nach Hause kam. Mit stolzem Gesicht führte sie Rut und Joana einen topmodischen Jeansmantel im Patchwork Stil vor, den sie sich in der Stadt gekauft hatte.
    „Was hast du denn in der anderen Tasche?“, fragte Rut.
    Sunna zeigte ein verschmitztes Lächeln, bei dem Joana erstmals die Reißzähne erkennen konnte. Sie war also mindestens seit zwei Jahren in diesem Körper. Joana wusste, dass es so lange dauerte, bis der menschliche Körper sich dem dämonischen nach und nach anglich. Eine Besonderheit aller Vampirartigen, die sie von anderen Dämonen unterschied.
    „Oh, ich verstehe.“ Rut zwinkerte und Sunna legte schelmisch den Kopf schief.
    Dann drehte sie sich einmal um ihre eigene Achse und tänzelte aus dem Wohnzimmer durch den Korridor die Treppen hoch, wo sich ihr Schlafzimmer befand. Den beiden zuzusehen, wie sie die glückliche Kleinfamilie vorspielten, war ebenso verstörend wie anrührend.
    „Das war sicherlich ein Weihnachtsgeschenk für mich“, vermutete Rut schmunzelnd, ehe sie sich wieder Joana zuwandte und mit einer aufmunternden Geste zu verstehen gab, dass die Pause beendet war.
    Durch die starke Konzentration fühlte Joana sich von ihren Gedanken beengt. Sie wogen Tonnen, wie sollte sie sich je von ihnen befreien? Doch auch wenn sie nicht daran geglaubt hatte, spürte sie bei einem der nächsten Versuche eine plötzliche Veränderung. In ihrem Geist funkte eine Flamme aus gleißendem Weiß auf, schwoll an und verschlang alles andere. Reine, saubere Leere erfüllte sie. Inmitten des Nichts, das sie weder als hell noch als dunkel oder in irgendeiner Farbe bezeichnen konnte, schien sich ein haarfeiner Riss abzuzeichnen und langsam auszudehnen. Da war etwas hinter diesem Riss, ein Bild, das sie sehen wollte. Sehen musste. Unbedingt. Doch kaum hatte sie den Wunsch verspürt, es möge sich ihr zeigen, flossen wieder Gedanken in ihr Hirn. Die reale Welt hatte sie zurück und prompt schien der Boden

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