Nybbas Träume - Benkau, J: Nybbas Träume
und das T-Shirt klebte ihr am Rücken. Die Sonne schaffte es an diesem trüben Sommertag nicht durch die Wolken. Es war neblig, doch warm genug, um zu schwitzen. Trotzdem entschied sie, sofort zum Bürogebäude von Meyers Pharmazeutika zu fahren. Sie wusste nicht, bis wann Nicholas dort sein würde. Joana wollte ihn unbedingt an einem öffentlichen Ort treffen, auch wenn sie nicht wirklich Angst vor ihm hatte. Zumindest keine große. Schließlich hatte er ihr nichts getan, obgleich er wahrscheinlich die Möglichkeit dazu gehabt hätte. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm. So sehr sie auch versucht hatte, diese Ahnung zu verdrängen, es gelang ihr nicht einmal ansatzweise, denn außer ihm hatte niemand die Möglichkeit gehabt, das Wandlungsritual an ihr durchzuführen. Sie hoffte dennoch, dass ihr Gefühl sie täuschte.
Heimzufahren und die ganze Nacht mit dem Gedanken wach zu liegen, dass er jederzeit auftauchen könnte, war zu viel für ihr angespanntes Nervenkostüm. Ein Stück weit sehnte sie sich auch einfach nur nach seiner Nähe, die sie die Geschehnisse vielleicht vergessen lassen würde. Der prosaische Teil ihres Verstandes unterstützte das mit Nachdruck. Er war allenfalls ebenfalls ein Clerica und damit im Grunde nichts Übernatürlicheres als sie selbst. Alles andere schloss sie aus. Vermutlich war es fatalistisch so zu denken, oder einfach nur dumm und naiv, aber das war ihr egal.
Sie stieg aus der Bahn und konnte den gewaltigen Gebäudekomplex auf der anderen Straßenseite schon sehen. Es war eines dieser modernen Hochhäuser mit verspiegelten Fenstern und gläsernen Aufzügen an der Außenseite der Fassade. In den unteren Etagen lagen Büroräume und in den oberen Apartments. Joana vermutete, dass man von der Rückseite des Gebäudes einen tollen Blick über die Elbe bis zur Altstadt haben musste. Zwischen all den Leuten in Anzügen und Kostümen, die das Gebäude verließen und betraten,kam sie sich mit den zerzausten Haaren und der Adidas-Tasche schrecklich deplatziert vor. Das Gefühl, angestarrt zu werden, verhärtete sich, als sie meinte, die Dame mit dem Gucci-Handtäschchen hätte soeben die Nase über sie gerümpft.
Sie betrat die Eingangshalle mit zu Boden gerichtetem Kopf und hielt auf die Fahrstühle zu. Schilder wiesen darauf hin, in welchem Stock sich die Räumlichkeiten von Meyers Pharmazeutika befanden. Im Aufzug war sie allein. Den Blick in die Überwachungskamera meidend, unterdrückte sie ein nervöses Grinsen. Ihr war, als erschliche sie sich gerade den schnellsten Weg zum Schafott.
Die Türen glitten lautlos zu beiden Seiten auf und gaben den Blick auf einen Empfangstresen frei, hinter dem eine junge Frau saß und mit hektischen Bewegungen auf ihre Tastatur einhackte.
„Entschuldigen Sie bitte“, sagte Joana und räusperte sich. „Ich suche nach Nicholas Nyrr.“
Die Frau sah nicht einmal auf, blickte nur auf ihre goldene Armbanduhr. „Wann ist Ihr Termin?“
„Um vier“, log sie ohne zu zögern.
Über das Gesicht der Empfangsdame glitt ein falsches Lächeln und sie schlug die Wimpern hoch. Aus ihrem Gesicht sprühte kalte Gleichgültigkeit. „Das wüsste ich.“
„Ich muss dringend mit ihm sprechen“, erwiderte Joana, überrascht von ihrer eigenen Beharrlichkeit. „Mein Name ist Joana Sievers. Würden Sie ihm bitte einfach sagen, dass ich hier bin?“
Ihr Gegenüber rollte aufgesetzt mit den Augen. „Herr Nyrr ist in einer Besprechung. Sobald diese beendet ist, werde ich ihn informieren.“ Sie wies den Gang hinunter. „Zweite Tür links, dort ist ein Warteraum. Wie lange es dauert kann ich Ihnen nicht sagen. Ich hoffe für Sie, dass es wirklich wichtig ist.“
„Kann man so sagen“, murmelte Joana und wandte sich ab.
Der Warteraum war wie der Eingangsbereich nüchtern, schmucklos, aber elegant eingerichtet und verfügte zumindest über einen Kaffeeautomaten. Joana zog sich einen Cappuccino, rührte lustlos darin herum und starrte aus dem Fenster. Sie überlegte gerade, die Empfangsdame noch einmal zu belästigen, um sie nach den Toiletten zu fragen, denn ein wenig notdürftiges Frischmachen würde sicher nicht schaden, als die Tür geöffnet wurde. Ein junger Mann kam herein und musterte sie mit derart penetranter Neugier, dass Joana ihm eigentlich gern böse gewesen wäre. Allerdings zählte dieser Junge auf den ersten Blick nicht zu den Menschen, denen man derartige Empfindungen entgegenbringen konnte. Er war kaum zwanzig Jahre alt, eher jünger, und sah
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