Nybbas Träume - Benkau, J: Nybbas Träume
gleichzeitig und stürmten auf sie zu. Joana verstand nichts weiter als Tobias’ fassungsloses „Ach du Scheiße!“
Sie entwand sich den ausgestreckten Armen, taumelte an allen vorbei in den Flur. Nur raus aus diesem Raum. Weg von diesem Kerl, der sie hatte umbringen wollen. Sie lehnte sich gegen eine Wand und drückte das Gesicht an die kalten Steine. Ihr Körper wurde geschüttelt, sie konnte selbst nicht sagen, ob sie weinte oder hysterisch lachte. Klirrend zerbrach der Kopf des Schwanes zu ihren Füßen. Sie wischte sich mit einer Hand über das Gesicht. Zwischen ihren Fingern klebten noch immer ausgerissene Haare von Arnd und dem Schrumpfkopf. Sie konnte nicht sagen, was davon sie mit mehr Ekel erfüllte. Jemand streichelte ihren Rücken und hielt ihr das Asthmaspray vors Gesicht. Sie zwang sich den Sprühnebel in die Lungen zu ziehen, auch wenn es wie Feuer in den Atemwegen brannte. Kühle Finger berührten vorsichtig ihre schmerzende Kehle. Sie wollte schlucken, aber es gelang ihr nicht. Ihre Lippe pochte.
„Ich will nach Hause“, presste sie hervor und erkannte ihre eigene Stimme nicht mehr, so rau und dünn war diese geworden.
Ein entrüstetes Schnauben antwortete ihr. Tante Agnes. „Worauf du dich verlassen kannst.“
18
J
oanas Zug fuhr am nächsten Nachmittag im Hamburger Hauptbahnhof ein. Den Hubschrauber hatte Theodor kein zweites Mal für sie zur Verfügung gestellt. Sie verabschiedete sich mit einer verhaltenen Umarmung von ihrer Tante, die weiterfahren musste. Mit ihrer Sporttasche über der Schulter ging Joana über den Bahnsteig und durch die großen Hallen. Hektisch war es hier. Emotionslos, und alles war ihr seit früher Kindheit vertraut. Beinah ehrfürchtig starrte sie in die vorbeihuschenden Gesichter. Ein paar Augenpaare erwiderten ihren Blick kurz, fast nervös, ehe sie weitereilten und wie mit einem erleichterten Seufzer wieder in der Anonymität der Masse verschwanden. Ein paar Skatern musste sie ausweichen, an den Obdachlosen am Boden sah sie unangenehm berührt vorbei.
Sie war wieder zu Hause und alles war wie immer. Hamburg hatte sich nicht verändert. Warum sollte es auch. Und doch war die Welt, so wie Joana sie kannte, nicht mehr vorhanden. Sie fragte sich wie viele dieser Unbekannten nicht das waren, wofür sie sich ausgaben.
An einem Zeitungsstand fielen ihr die Schlagzeilen der Boulevardblätter auf. Sie handelten an diesem Tag alle von dem gleichen Thema: Dem Hamburger Ripper, der eine weitere junge Frau getötet hatte. ‚Das fünfte Opfer. Was mag einen Menschen zu solchen Taten treiben?‘, stand unter einer Headline.
Wenn es denn ein Mensch war. Andererseits war es auch kein Dämon gewesen, der versucht hatte, sie zu töten. Arnd würde nicht einmal vor Gericht kommen. Sie würden ihn aus dem Rat entlassen, aber viel mehr hatte er nicht zu befürchten. Bedauerlich, dass sie nicht fester zugeschlagen hatte. Sie schluckte schwer gegen den Kloß in ihrer Kehle an und lockerte das Halstuch, unter dem sie die Würgemale versteckte. Ob sie dieses Erlebnis je verarbeiten würde? Im Zug war sie immer wieder eingenickt, jedoch stets hochgeschreckt, weil Träume mit ihren Klauenfingern nach ihr gegriffen hatten. Sie fröstelte beim Gedanken daran, dass das Ganze vermutlich eine ausgewachsene Schlafstörung im Kielwasser hinter sich herziehen würde. Sie konnte nicht mal mit jemand Außenstehendem darüber reden.
Kein Wort über die Existenz von Dämonen oder der Clerica durfte an die Öffentlichkeit geraten. Der Rat hatte sie gehen lassen, wenn auch nur für zwei Wochen, um sich von dem Schock zu erholen, und nur mit dem Versprechen, dass sie ihr Schweigen wahren musste. Sie konnte es sogar verstehen. Jedes Verbrechen, jede Entgleisung würden die Menschen auf Dämonen schieben, wenn sie von ihnen wüssten. Innerhalb von kurzer Zeit wären die Erinnerungen an Inquisitionen und Hexenverfolgung keine Vergangenheit mehr, sondern düstere Realität. Diese Welt war nicht bereit für die Wahrheit, die sie selbst zwar akzeptierte, aber immer noch nicht im ganzen Umfang verstand.
Es gab Wahrheiten, die besser nicht ans Licht gebracht wurden. Oft war eine Illusion der Realität eindeutig vorzuziehen.
Dennoch zog es Joana nicht nach Hause, sondern an einen anderen Ort. Einen Ort, an dem sie eben diese düsteren Wahrheiten beleuchten würde.
Sie nahm die Straßenbahn und fuhr nach Altona, ohne an ihrer Station auszusteigen. Ihre Kleidung war von der langen Zugfahrt zerknittert
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