O du Mörderische
und es gab mindestens noch eine weitere Galerie. Das Gebäude machte einen
festlichen Eindruck mit der rundum angebrachten Weihnachtsbeleuchtung, die ganz nach meinem Geschmack war, und der Parkplatz
war schon fast voll.
»Das ist prima«, sagte Mary Alice. »Mercy hat ordentlich viele Besucher.«
»Wer ist diese Mercy überhaupt?«
»Du kennst sie, Patricia Anne. Sie ist die Tochter von Betty Bedsole. Erinnerst du dich? Die Miss America, die diesen Filmboss
geheiratet hat.«
»Ach die, ich weiß.«
»Mercy hat die Sommerferien immer hier bei ihren Großeltern verbracht. Sagt dir die Bedsole Steel Company was? Das ist ihre
Familie. Und vor etwa einem Jahr ist sie richtig hierhergezogen. Du liest offensichtlich nicht die Klatschseite.«
»Entgeht mir da was?«
Mary Alice ignorierte diese Bemerkung. »Ich habe sie ein paarmal bei Wohltätigkeitsveranstaltungen und ähnlichem getroffen,
und jetzt, wo sie hierhergezogen ist, sitzt sie mit mir zusammen im Verwaltungsrat des Museums. Sie interessiert sich wirklich
für Volkskunst und hält diese Folk-Art-Leute für die heißeste Sache seit der Erfindung des Toastbrots.«
»Sind das ihre Worte? Wie alt ist denn diese Frau?«
Mary Alice stieg aus und knallte die Tür zu. »Eigentlich hatte ich vor, dein Weihnachtsgeschenk hier zu kaufen. Überspann
also den Bogen nicht.«
Ich hüpfte hinaus und eilte hinter ihr her.
Mein erster Eindruck von der Galerie war eine Farborgie, |27| die einen schwindelig machen konnte. Das sanfte Grau der Wände und Fußböden konnte das Schillern der Quilts und Gemälde, die
dort hingen, nicht abdämpfen. Und die Fröhlichkeit spiegelte sich in den bewundernden Mienen ringsum wider. Leise Weihnachtsmusik
spielte, während die Besucher die Gläser klingen ließen. Eine richtige Party. Fröhliche Weihnachten!
Mary Alice hatte die Arme ausgebreitet, als würde sie die Menge segnen. »Sieh dir das an, Maus!«
»Willkommen die Damen. Würden Sie bitte so gut sein, sich in unser Buch einzutragen?« Die Stimme gehörte einer schönen jungen
Frau mit tiefschwarzem, glänzendem Haar, das im Stil der zwanziger Jahre geschnitten war: mit einem geraden Pony, der unmittelbar
über den schwarzen Augenbrauen endete, und glatt herabfallenden, nach vorne hin längeren Seitenpartien, die ihre Wangen berührten.
Sie hätte als Partnerin von Rudolph Valentino auftreten können. Ihr enges, bodenlanges graues Kleid ließ eine Figur erkennen,
die ebenso elegant war wie ihr Haarschnitt.
»Ich bin Claire Moon«, sagte sie und streckte uns eine schneeweiße Hand entgegen.
»Mary Alice Crane«, sagte Schwesterherz und schüttelte die dargebotene Hand, »und das ist meine Schwester, Patricia Anne Hollowell.«
»Mrs. Hollowell«, sagte Claire Moon. »Ich hieß früher Claire Needham. Sie haben mich vor etwa zwölf Jahren unterrichtet.«
Wenn man so lange wie ich als Lehrerin gearbeitet hat, passiert so etwas häufig. Manchmal erinnere ich mich an die Schüler,
manchmal nicht. Aber ich bin selten so erstaunt, was aus ihnen geworden ist, daß mir die Kinnlade herunterfällt.
Claire Needham Moon bekam Mitleid mit mir. »Ich weiß, ich habe mich sehr verändert.« Sie ließ ein leises, girrendes Lachen
hören.
|28| »Es liegt wohl an Ihrer Frisur«, sagte ich. Wir wußten beide, daß das gelogen war.
»Ihr Haar ist phantastisch«, erklärte Schwesterherz.
Claire Moon strich sich mit beiden Händen über die glänzende Pracht. »Delta«, sagte sie, »im Delta Hairlines. Sie bekommt
alles hin.«
Ich war immer noch ziemlich perplex über Claires Metamorphose und hatte keinen Schimmer, wovon sie sprach. Ließ sie sich die
Haare in einem Flugzeug schneiden?
»Zu der muß ich auch«, sagte Schwesterherz.
»Sie werden begeistert sein.« Claire reichte Schwesterherz einen Stift. »Tragen Sie sich in unser Buch ein und fühlen Sie
sich wie zu Hause. Mercy schwirrt auch irgendwo herum. Hat mich gefreut, Sie zu sehen, Mrs. Hollowell, Mrs. Crane.« Sie schien sich in dem grauen Teppich und den grauen Wänden aufzulösen wie die Cheshire-Katze aus ›Alice im Wunderland‹,
und nur ihr weißes Gesicht war noch eine Weile zu sehen.
»Wer ist das?« fragte Schwesterherz. »Sie ist umwerfend.«
»Als ich sie unterrichtete, hieß sie Clarissey Mae Needham und war eines der bemitleidenswertesten Kinder, die du dir vorstellen
kannst. Sie stammte aus einer absolut gewalttätigen Familie, der Vater Alkoholiker, die Mutter
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