Obduktion
2008 New York City
A llmächtiger Gott, ich flehe dich an«, betete James. »Zeig mir einen Weg, wie ich die Sache mit dem Ossuarium lösen kann.« Er war in der exklusiven Privatkapelle im dritten Stock der Residenz, die dem Apostel Johannes gewidmet war, und kniete auf einem antiken Betstuhl unter einer Gedenktafel aus Ebenholz.
Auf der Tafel war eine kunstvolle Darstellung der Himmelfahrt Marias zu sehen. Die Muttergottes stand auf Wolken, umgeben von zwei Engeln. Am Fuß der Wandtafel befand sich ein zierlich gearbeitetes Weihwasserbecken aus Sterlingsilber. James hatte dieses Bild schon immer geliebt, aber heute Morgen war es für ihn von ganz besonderer Bedeutung.
»Ich habe nie Deinen Willen infrage gestellt, aber nun fürchte ich, dass die Aufgabe, die Du in meine unwürdigen Hände gelegt hast, meine Kraft übersteigt. Ich glaube fest daran, dass die Knochen, die sie in dem Ossuarium finden werden, nicht die Deiner Heiligen Mutter sind. Es ist mein bescheidener Wunsch, dass es nicht die Überreste einer Frau sind. Nur dann werde ich mich imstande fühlen, mit diesem Problem fertig zu werden. Außerdem bete ich dafür, dass mein Freund Shawn Daughtry sämtliche Verbindungen, die er ursprünglich zwischen dem Ossuarium und Deiner Heiligen Mutter
vermutet hat, abstreiten wird.« Er bekreuzigte sich, kam wieder hoch und sagte inbrünstig: »Dein Wille geschehe. Amen.«
James’ Qualen hatten es ihm schwer gemacht, Schlaf zu finden, und er hatte seine Augen an diesem Morgen bereits vor fünf Uhr aufgeschlagen. Als er sich aus der Wärme seines schmalen Metallbettes erhob, hatte er schon einmal ein sehr ähnliches Gebet wie nun in der Kapelle gesprochen, an einem einfacheren Betpult in seinem asketischen, kalten Schlafzimmer.
Von da an war dieser Morgen genau wie jeder andere Samstagmorgen verlaufen. Er las sein Brevier, hielt mit seinen Messdienern den Gottesdienst ab und frühstückte mit seinen beiden Sekretären. Es gab eine kurze Unterbrechung von etwa zehn Minuten, als Shawn und Sana kamen, um das Ossuarium abzuholen. Leicht besorgt hatte James Shawn und Pater Maloney dabei zugesehen, wie sie die Kiste aus dem Keller holten und in ein schmutziges, gelbes Taxi luden. James war zusammengezuckt, als der Kofferraumdeckel zugeschlagen wurde. Auch wenn er nicht glaubte, dass sich die Knochen der heiligen Maria darin befanden, hielt er diese grobe Behandlung doch für frevelhaft.
Nachdem die Daughtrys weggefahren waren, kehrte James in seine privaten Räume zurück und legte sein volles Ornat an, denn am heutigen Tag besuchte er die Kirche Unserer Lieben Frau vom Rosenkranz. Danach war er in die kleine Kapelle gegangen.
Nur mühsam erhob er sich wieder von den Knien. Dann tauchte er seine Finger ins Weihwasser, bekreuzigte sich und ging in sein Büro, das sich eine Etage über der Kapelle befand. Seine E-Mails zu lesen, gehörte zu seinem allmorgendlichen Programm. Gerade als der Monitor aus dem Ruhezustand erwachte, klingelte das Telefon
und er schaute auf die Anzeige, um die Identität des Anrufers festzustellen. Als er sah, dass es Jack war, riss er den Hörer hoch. Leider nicht schnell genug. Anstelle von Jacks Stimme war nur ein Freizeichen zu hören, was bedeutete, dass Pater Maloney oder Pater Karlin ihm zuvorgekommen waren. Ungeduldig trommelte er mit seinen Fingern auf die Schreibtischunterlage. Dann endlich klingelte das Haustelefon.
»Es ist ein Dr. Jack Stapleton«, sagte Pater Karlin. »Möchten Sie ihn sprechen?«
»Ja, vielen Dank«, sagte James. Aber er nahm den Hörer nicht sofort auf, denn ihm war klar, dass Jacks Anruf bedeutete, dass sie das Ossuarium geöffnet hatten. Er rezitierte ein schnelles Gebet und schielte auf das kleine, rot blinkende Licht. Plötzlich fühlte er sich nicht mehr so zuversichtlich, so als wüsste er, dass Gott seine Qualen noch verlängern wollte.
Er atmete einmal tief durch und meldete sich mit sanfter Stimme am Telefon.
»Bist du das, James?«, fragte Jack.
»Ich bin es«, presste James heraus. Im Hintergrund konnte er Gelächter und aufgeregte Stimmen und Gespräche hören, die seine letzten Hoffnungen über die Nachricht begruben.
»Ich glaube nicht, dass du das hören willst«, sagte Jack, »aber …«
James konnte hören, dass Jack von einem begeisterten Shawn, der mit ihm um den Hörer rang, unterbrochen wurde. Laut und deutlich hörte James Shawn sagen: »Ist das Seine Exzellente Eminenz, der hofft, eines Tages den Fischerring zu tragen? Lass mich
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