Obduktion
Nachricht – »Bin zum OCME. Ruf mich auf dem Handy an, wenn du Zeit hast.« – und machte sich auf den Weg, als gerade der Tag anbrach.
Die Luft war eisig. Obwohl er erschöpft war, fühlte er sich herrlich lebendig, als er mit dem Fahrrad Richtung Süden fuhr. Das Geheimnis um das Ossuarium würde sich heute entweder in Luft auflösen oder in eine neue, faszinierendere Höhe aufsteigen. Anders als sein Freund, der Erzbischof, hoffte Jack auf Letzteres.
Es tat ihm leid, dass Laurie solche entspannenden
Momente nicht haben konnte. Ihr Tag würde ein genauso emotionales Desaster werden wie der Vortag und der Tag davor. Ein guter Tag war für sie einer, der weniger schlecht war als der letzte.
Zwanzig Minuten später bog Jack in die Ladezone des OCME ein und stellte sein Rad an einem sicheren Platz ab. Das war kein großer Umstand, es hieß nur, dass er die letzten vier Blöcke nach Süden Richtung DNA-Gebäude zu Fuß gehen musste, was sich an diesem klaren, frischen Morgen als sehr angenehm erwies.
Er sah auf die Uhr. Sein Timing hätte nicht besser sein können. Es war fünf vor acht. Er erkundigte sich beim Pförtner, um sicherzugehen, dass Shawn und Sana nicht schon früher gekommen waren. Wie schon vermutet, waren die beiden aber noch nicht da. Schon zu Collegezeiten war Shawn immer zu spät gekommen.
Jack saß auf einer der gepolsterten Bänke in der Eingangshalle und beobachtete den spärlichen Verkehr auf der First Avenue. In Gedanken war er bei dem Ossuarium, und seine Aufregung wuchs stetig.
Um zwanzig nach acht stieg Shawn, gefolgt von Sana, aus dem Taxi. Gemeinsam mit dem Fahrer gingen sie zum Kofferraum.
Als Jack wieder in die winterliche Luft trat, hoben Shawn und der Fahrer gerade das Ossuarium aus dem Kofferraum. Jack spurtete auf sie zu und nahm dem Fahrer seine Last ab.
»Wie schön, Sie wiederzusehen, Dr. Stapleton«, sagte Sana.
Jack winkelte ein Knie an, um die Ecke des Ossuariums darauf abzusetzen, und streckte Sana die Hand entgegen. »Ganz meinerseits. Aber nenn mich ruhig Jack.«
»Jack. In Ordnung«, sagte Sana erfreut. »Aber bevor ich weiterrede, möchte ich mich erst einmal dafür bedanken,
dass du den Platz im Labor für uns arrangiert hast.«
»Es war mir ein Vergnügen«, sagte Jack, der seitwärts gehend zusammen mit Shawn das Ossuarium trug. Schon der Anblick des Kastens, dessen Deckel aus dem mit Schaumstoff ausgelegten Karton ragte, steigerte Jacks Vorfreude auf das Projekt. Es sah größer aus als in der Kiste. Und außerdem war es schwerer, als er gedacht hatte.
»Gab es Schwierigkeiten, als du es aus der Residenz geholt hast?«, fragte er.
»Nein, es war ganz einfach«, sagte Shawn, »aber ich glaube, Seine hochwohlgeborene Eminenz wollte sich nicht so recht davon trennen. Er ließ durchklingen, dass wir es ja dort in seinem staubigen Keller untersuchen könnten. Kannst du dir das vorstellen? Ich meine, der Mann hat wirklich nicht die leiseste Ahnung von Wissenschaft. «
»Vorsichtig!«, warnte Sana, als sie durch die Glastür des Gebäudes gingen. Drinnen angekommen setzten sie das Ossuarium vorsichtig auf der Bank ab, auf der Jack zuvor gesessen hatte.
Jack wandte sich Sana zu, und sie begrüßten sich ein zweites Mal. »Ich glaube nicht, dass ich dich erkannt hätte«, sagte er. »Du siehst anders aus als beim letzten Mal. Das muss an der Frisur liegen.«
»Lustig, dass du das erwähnst«, sagte Shawn. »Ihre Frisur war ihr Markenzeichen, wenn du mich fragst. Du musst sie auch gemocht haben, fall du dich noch daran erinnerst.«
»Ich fand die Frisur ganz gut«, sagte er. »Aber so mag ich ihr Haar auch.«
»Sehr diplomatisch«, bemerkte Shawn säuerlich.
»Das ist also das berühmte Ossuarium«, sagte Jack, um das Thema zu wechseln. Die Stimmung war angespannt,
und er hatte keine Lust, mitten in einen Ehekrach hineinzugeraten. Jack spürte, dass Sanas Haarschnitt anscheinend ein Reizthema für die beiden war.
»Ja, das ist es«, sagte Shawn, der sich wieder beruhigt hatte, und gab dem Kalksteinkasten einen Klaps wie ein stolzer Vater. »Ich bin so aufgeregt. Ich glaube, es wird die Weltanschauung und die religiösen Grundsätze vieler Menschen verändern.«
»Vorausgesetzt, es ist nicht leer«, fügte Jack hinzu. Er war nicht sicher, wie machtvoll Gebete sein konnten, aber er hatte das Gefühl, dass James alles geben würde.
»Natürlich, vorausgesetzt, es ist nicht leer«, wiederholte Shawn scharfzüngig. »Aber es wird nicht leer sein. Möchte jemand
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