Obduktion
die ich noch eine Predigt schreiben muss. Ich muss mich also darauf verlassen können, dass Sie beide mich nicht enttäuschen. Wenn ich morgen Mittag in die Residenz zurückkomme, erwarte ich hier mindestens einen, besser noch mehrere Kandidaten für eine eingehendere Befragung. Wie Sie das schaffen, ist mir egal, und Geld spielt dabei keine Rolle. Das Wetter soll gut werden, also bedienen Sie sich eines Hubschraubers, wenn es schneller geht. Ich frage Sie jetzt noch einmal: Haben Sie mich verstanden oder haben Sie noch irgendwelche Fragen?«
»Ihr habt uns nicht gesagt, was die Person eigentlich
tun soll, Euer Eminenz«, antwortete Pater Maloney, »und durchblicken lassen, dass Ihr das auch nicht tun werdet. Aber die Äbte, die Vorsteherinnen und die Bischöfe werden uns diese Frage zweifellos stellen. Was sollen wir ihnen antworten?«
»Sagt Ihnen, dass auf mein Dekret hin niemand außer der ausgewählten Person etwas von dem Problem erfahren soll, das auf die Erzdiözese zukommen wird.«
»Selbstverständlich«, erwiderte Pater Maloney, der sich erhob und seinen Morgenmantel fester um den knöchrigen Körper schlang. Auch Pater Karlin stand auf.
»Das wäre dann alles«, schloss James. »Ich bete darum, dass Sie erfolgreich sind.«
»Vielen Dank, Euer Eminenz«, sagte Pater Maloney und verbeugte sich knapp, bevor er Pater Karlin aus dem Zimmer folgte.
Als die beiden Priester im Treppenhaus vom zweiten in den dritten Stock stiegen, ging Pater Karlin voraus. »Das ist die seltsamste Aufgabe, die mir je erteilt wurde, seit ich hier vor fünf Jahren angekommen bin!«, rief er zu Pater Maloney herunter, der gerade erst den Fuß der Treppe erreichte.
»Das kann ich nur bestätigen«, antwortete Pater Maloney.
Auf dem Treppenabsatz zum vierten Stock hielt Pater Karlin inne und wartete auf seinen Glaubensbruder. »Wie beschaffen wir uns die Telefonnummern dieser marianischen Vereinigungen?«
»Da gibt es etliche Möglichkeiten«, antwortete Pater Maloney. »Gerade heutzutage mit dem Internet. Außerdem ist ja wohl klar, dass der Kardinal einen ziemlich extremen Menschen sucht. Also wenden wir uns am besten an die radikalste Organisation. Mit etwas Glück werden wir dort bereits fündig.«
»Du hast schon eine Idee?«
»Ich denke ja«, sagte Pater Maloney. »Vor ein paar Jahren hat mich ein Freund der Familie angesprochen und um Hilfe gebeten, um sein Kind aus so einer Organisation herauszuholen, der Bruderschaft der Sklaven Mariä. Ich hatte noch nie davon gehört, obwohl es eigentlich gar nicht weit weg ist. Gleich drüben in den Catskill Mountains. Andererseits leben die dort fast wie auf einem anderen Planeten. Die Organisation scheint so etwas wie die moderne Wiedergeburt einer fanatischen marianischen Gesellschaft aus dem Europa des 17. Jahrhunderts zu sein. Damals hielt es Papst Clemens X. für angebracht, ein paar ihrer Praktiken zu untersagen.«
»Grundgütiger!«, entfuhr es Pater Karlin. »Was für Praktiken waren das denn?«
»Der Gebrauch von Ketten und dergleichen, um für die Sünden der Menschheit zu büßen.«
»Ach du lieber Gott!« Pater Karlin schüttelte den Kopf. »Und? Habt ihr das Kind da wieder herausbekommen?«
»Ich habe es nicht geschafft. Unzählige Anrufe und sogar ein Besuch dort waren vergebens. Der Knabe liebte den Ort. Er hatte alles, was er brauchte. Ich weiß nicht, ob er immer noch dort lebt. Ich habe den Kontakt zu der Familie verloren, weil meine Bemühungen sie enttäuscht haben.«
»Und hast du die Telefonnummer noch?«
»Ja. Dort werde ich zuerst anrufen. Wenn der Kardinal von der Existenz dieser Gemeinschaft wüsste und sie besuchen würde, würde er sie wahrscheinlich verbieten.«
»Was für eine Ironie. Vor allem, wenn wir dort wirklich jemanden finden, der den Vorstellungen des Kardinals entspricht.«
Kapitel 25
12:04 Uhr, Sonntag, 7. Dezember 2008 New York City
D er Weihrauchduft war James in die Kleidung und auch ein wenig in den Kopf gestiegen, als er die Ka thedrale verließ und sich wieder auf den Heimweg machte.
Zum Hochamt war die Kirche mehr als gut besucht gewesen; die Leute hatten sogar in den Gängen gestanden und im ganzen Kirchenschiff war kein Platz mehr frei gewesen. Der Chor hatte eine fehlerlose Leistung geboten, und auch seine Predigt war gelungen und gut aufgenommen worden. Nachdem in der vorangegangenen Nacht die Sekretäre in ihre Mansardenzimmer zurückgekehrt waren, hatte James den Entschluss gefasst, am nächsten Morgen über die
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