Obduktion
Rolle Marias in der modernen Kirche zu predigen. Das passte wegen des bevorstehenden Festtages, und er hatte in den vorangegangenen Tagen sehr viel über dieses Thema nachgedacht.
Jetzt, wo der Stress des Hochamts hinter ihm lag, brannte James darauf, sich wieder der Geschichte mit Shawn, Sana und dem Ossuarium zu widmen. Er wusste, dass die bevorstehende Woche entscheidend war, und flehte zum Himmel, dass seine Sekretäre vorangekommen waren.
Nachdem er die Teppen zur Residenz hinter sich gelassen hatte, sah er als Erstes, dass die hölzerne Bank vor seinem Büro besetzt war. Dort saß ein vielleicht fünfzehn bis sechzehn Jahre alter, flachsblonder Junge mit schönem
Gesicht, einem liebreizenden Lächeln und dichtem, schulterlangem Haar. James musste zweimal hinschauen, denn fast meinte er, eine Vision des Erzengel Gabriels vor sich zu haben. Der Knabe trug eine schwarze Soutane mit Kapuze, die mit einer blauen Kordel umgürtet war.
James riss sich nicht ohne Mühe vom Anblick des Jungen los und ging in sein Büro. Er trat rasch hinter seinen großen Eichenschreibtisch und atmete mehrmals tief durch. Er wusste, dass sich Pater Maloney zweifellos jeden Augenblick bemerkbar machen würde. Die Frage war, ob dieser Knabe als möglicher Kandidat ausgewählt worden war. Falls es sich so verhielt, hatten sich James’ Wünsche erfüllt, denn der unmittelbare Eindruck des Jungen auf ihn war überwältigend gewesen. Das war zwar schon sehr gut, aber dennoch blieb ein Problem bestehen. Der Knabe war viel zu jung. Er war fast noch ein Kind, und James fragte sich, ob er wirklich jemand so Unreifen mit einer so wichtigen Aufgabe betrauen sollte.
Wie James es erwartet hatte, wurde die Zimmertür nach kurzem Anklopfen geöffnet und der Sekretär trat ein. Mit einer Mappe in der Hand durchquerte er schnell das Zimmer bis zum Schreibtisch und überreichte sie James. »Sein Name ist Luke Hester und ja, er wurde nach dem Evangelisten Lukas benannt.«
»Er ist hinreißend«, sagte James. »Das muss ich zugeben. Aber ist er nicht ein bisschen jung für einen theologischen Notfall? Die Sache braucht einiges psychologisches Gespür.«
»Wenn Ihr einen Blick in den kurzen Lebenslauf werfen wollt, den ich zusammengestellt habe, werdet Ihr sehen, dass er älter und deshalb vielleicht auch verständiger ist, als sein jugendliches, engelhaftes Aussehen vermuten lässt. Er ist fünfundzwanzig Jahre alt und wird bald sechsundzwanzig.«
»Alle Achtung!«, rief James. Er legte die Mappe vor sich auf den Tisch, schlug sie auf und starrte auf das Geburtsdatum. »Das hätte ich niemals vermutet.«
»Es gab offenbar eine kleine hormonelle Störung, die man aber nie weiter untersucht hat«, stellte Pater Maloney fest. »Aber die damit verbundenen Probleme haben sich mittlerweile erledigt, und seine Hormonwerte sind wieder normal. Die Brüder, bei denen er lebt, haben ihn vor ein paar Jahren in der Stadt untersuchen und behandeln lassen.«
»Aha, ich verstehe«, sagte James, während er rasch den Lebenslauf durchblätterte, aus dem hervorging, dass Luke das einzige Kind einer streng katholischen Mutter und eines aus der Kirche ausgetretenen katholischen Vaters war. Der Junge war nach seinem achtzehnten Geburtstag von zu Hause fortgelaufen und hatte sich einer marianischen Gemeinschaft angeschlossen, die sich Bruderschaft der Sklaven Mariä nannte.
»Haben Sie schon mit ihm gesprochen?«
»Ja, das habe ich. Mir scheint, er kommt der Person, die Ihr letzte Nacht beschrieben habt, so nahe wie niemand sonst, der mir jemals begegnet ist. Der Ausdruck ›charismatisch‹ ist noch zu schwach, um ihn zu beschreiben. Außerdem ist er entwaffnend intelligent.«
»Und er bekennt sich zur Jungfrau Maria?«
»Vollkommen. Mit Leib, Herz und Seele. Seine Worte und sein Lebenswandel sind ein unermüdliches Gebet an die Heilige Jungfrau.«
»Ich danke Ihnen, Pater Maloney. Bitten Sie ihn doch herein.«
Eine halbe Stunde später war James genauso überzeugt wie Pater Maloney. Nach James’ Empfinden hätte Luke nicht besser qualifiziert sein können, wenn er von einer
Castingagentur geschickt worden wäre. Sein relativ junges Leben war nicht leicht gewesen. Er stand zwischen einem alkoholkranken, gewalttätigen Vater, einer alles ertragenden Mutter, die sich in ihre Opferrolle gefügt hatte, und ein paar ländlichen Priestern, die bei ihm kläglich versagt hatten. Die Sache mit den Priestern hörte James gar nicht gern, besonders, da Jack ihm letzte
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