Obduktion
sie, in der Hoffnung, dass beide ihr Verhalten besser in den Griff bekämen, vorgeschlagen, in ein Restaurant zu gehen, aber weder Shawn noch James waren dazu bereit gewesen. Sie genossen ihre endlosen, heftigen Diskussionen zu sehr und wollten sich dabei nicht zusammenreißen müssen.
Damals, am Anfang ihrer Beziehung, als Shawn ihr das erste Mal von seiner jahrelangen Freundschaft mit dem Erzbischof erzählte, konnte sie ihm nicht ganz glauben. Immerhin war der Erzbischof der mächtigste Prälat des Landes, wenn nicht der Hemisphäre. Der Mann war eine echte Berühmtheit. Es wurde sogar gemunkelt, er würde vielleicht einmal Papst werden.
Es waren nicht nur ihre unterschiedlichen Positionen, die ihre Freundschaft so unwahrscheinlich machten. Es waren ihre Persönlichkeiten – Shawn, der extrovertierte Feingeist, der ständig nach Gelegenheiten suchte, sich entweder aufzuspielen oder selbst zu beweihräuchern, und James, der ach so bescheidene Gemeindepfarrer, dessen Schicksal es war, mehr und mehr Verantwortung zu übernehmen, der er überhaupt nicht gewachsen war. Am meisten amüsierte Sana, dass die beiden diese gegensätzlichen Charaktereigenschaften abstritten. Shawn hatte nichts von der Bescheidenheit, die James an den Tag
legte, und warf ihm ungezügelten Ehrgeiz vor, gepaart mit außergewöhnlichem Pragmatismus, Scharfsinn und der Fähigkeit, anderen Honig um den Bart zu schmieren. James fand Shawns Aufschneiderei genauso suspekt und war überzeugt, dass Shawn ein sehr unsicherer Mensch war. Inzwischen glaubte Sana das langsam auch. James wiederum konnte es nicht lassen, Shawn ständig daran zu erinnern, dass Gott und die Kirche für ihn da seien.
Aus Sanas Sicht war eine Freundschaft zwischen den beiden schon aufgrund ihrer äußerlichen Erscheinungen unmöglich. Shawn war ein athletischer Typ, der auf dem Amherst College zahlreichen Sportteams angehört hatte. Mit seinen eins dreiundachtzig Körpergröße und einem Gewicht von einundneunzig Kilo war er ein attraktiver Mann und immer noch sportlich genug, um an Tennisturnieren teilzunehmen. James war klein und untersetzt, und in der scharlachroten Robe, die er nun häufig trug, sah er erst recht aus wie ein Zwerg. Obendrein war Shawn der dunkle irische Typ, mit vollem, schwarzem Haar und markanten Zügen, während James rotes Haar hatte und eine milchige, sommersprossige, fast durchscheinende Haut.
Erst waren es die Umstände, die die beiden Männer zu Freunden gemacht hatten, später ihre gemeinsame Leidenschaft fürs Diskutieren. Aber das fand Sana erst später heraus. Alles begann, als Shawn und James in ihrer Studentenzeit Zimmernachbarn wurden. Ein dritter Student, der auf dem Flur gegenüber wohnte, stieß bald zu ihnen. Sein Name war Jack Stapleton, und wie der Zufall es wollte, lebte auch er heute in New York. Obwohl die »Drei Musketiere«, wie sie sich auf dem College nannten, völlig unterschiedliche Berufswege eingeschlagen hatten, landeten am Ende erstaunlicherweise alle in derselben Stadt.
Im Gegensatz zu James hatte Sana Jack Stapleton nur
zwei Mal getroffen. Er war bemerkenswert introvertiert, und sie fragte sich, wie er es mit den beiden anderen aushalten konnte. Aber vielleicht hatte ihn gerade seine nachdenkliche, zurückhaltende und nicht selbstbezogene Art zu dem Kitt gemacht, der die Gruppe damals auf der Uni zusammenhielt.
»Das wird James aus den Socken hauen«, fuhr Shawn, immer noch feixend, in freudiger Erwartung dieses Augenblicks fort. »Und ich werde es in vollen Zügen genießen. Das wird die Gelegenheit sein, ihn mal richtig in Verlegenheit zu bringen, und er wird sich winden wie ein Aal. Ich kann es kaum erwarten, das Unfehlbarkeitsthema wieder anzuschneiden. Dieser päpstliche Schwindel im Mittelalter und in der Renaissance, wir haben das bestimmt schon mehr als hundertmal diskutiert.«
»Was macht dich so sicher, dass deine Entdeckung auch nur ansatzweise so spektakulär ist wie Carters Entdeckung von Tutanchamuns Grab?«, fragte Sana, um endlich zum Thema zurückzukommen.
Sie war nicht sicher, welche Entdeckungen die zwei anderen Archäologen, die Shawn erwähnt hatte, gemacht hatten, obwohl ihr der Name Schliemann bekannt vorkam.
»Tutanchamun war ein unbedeutender Kindkönig, dessen Leben nur ein winziges Aufflackern war im Verrinnen der Zeit«, gab Shawn beleidigt zurück. »Die Jungfrau Maria hingegen war eindeutig der wichtigste Mensch, der je gelebt hat, von ihrem Erstgeborenen mal abgesehen. Vielleicht
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