Obduktion

war sie auch genauso wichtig. Mein Gott, sie war die Mutter von Jesus!«
    »Reg dich doch nicht gleich so auf«, versuchte Sana ihn zu beruhigen. Neuerdings wurde er schnell wütend, wenn er das Gefühl hatte, sie wäre in diesem, seinem Fachbereich nicht seiner Meinung. Der Witz war, dass
sie die enorm wichtige Bedeutung der Jungfrau Maria gar nicht infrage stellte, vor allem nicht im Vergleich mit einem unreifen Teenagerkönig, aber Carter hatte immerhin einen riesigen, verborgenen Schatz ans Tageslicht gebracht. Alles, was Shawn bislang hatte, waren drei Papyrusblätter, deren Echtheit nicht bestätigt war, und auf denen etwas von den Überresten der Jungfrau Maria zu lesen stand. Trotzdem konnte sie Shawn verstehen. Als er an der Stelle in Saturninus’ Brief angelangt war, an der es um ebendiese Überreste ging, war es für sie wie ein Schlag ins Gesicht gewesen.
    »Ich rege mich ja nicht auf! Ich wundere mich nur, dass du die unglaubliche Wichtigkeit dieses Briefes nicht siehst.«
    »Tu ich doch! Tu ich!«, insistierte Sana.
    »Ich glaube, Basilides fragte Saturninus nicht nur nach seiner Meinung bezüglich der Göttlichkeit von Simon, sondern auch, ob Simon möglicherweise irgendetwas Substanzielles geschrieben hat und falls ja, wo sich diese Schriften befinden. Vielleicht hatte Basilides einen Verdacht. Deshalb beschreibt Saturninus das Simon-Evangelium und die Tatsache, dass er und Menander es im Grab versteckt hatten, in einem Atemzug. Ich glaube nicht, dass Basilides wusste, dass Simon die Überreste der Jungfrau Maria nach Rom gebracht hatte, und es war ihm auch egal. Ihn interessierte nur Simons Theologie.«
    »Was bedeutet das Wort Evangelium eigentlich genau?«
    »Es bedeutet eine Botschaft, die Christus betrifft. Die meisten Menschen assoziieren diese Botschaft mit den ersten vier kanonischen Büchern des neuen Testaments, in denen Leben und Lehren von Jesus beschrieben werden. Weiter gefasst kann man jede Botschaft eines religiösen Lehrers als Evangelium bezeichnen. Genau aus diesem Grund ist es nicht nur spannend, sondern auch
lehrreich, herauszufinden, ob das Simon-Evangelium von Jesus Christus, Jesus Christus und Simon Christus zusammen oder Simon Christus allein handelt. Ich drücke mich ganz bewusst so aus, weil die meisten Leute denken, Christus wäre Jesus’ Nachname, was natürlich nicht stimmt. Der Name Christus kommt von dem griechischen Wort kristos, was Messias bedeutet und von dem das Wort Christ abgeleitet wurde. Wenn Simon sich für einen Messias hielt, hätte er sich sehr wohl Christus nennen können. Eines ist allerdings sicher: Simon ist nicht wiederauferstanden. Er blieb tot, nachdem er auf Befehl Neros vom Turm eines römischen Marktplatzes hinuntergestürzt war, um seine Göttlichkeit zu beweisen.«
    Sana blickte Shawn in die Augen. Sie konnte seine Gedanken lesen. Offensichtlich hielt er seine Chance, das Simon-Evangelium zu finden, für sehr hoch, und sie wusste genau warum. Vor fünf Jahren hatte Shawn es geschafft, James dazu zu bewegen, sich für ihn bei Papst Johannes Paul II. einzusetzen. So hatte er Zugang erhalten zu den Grabgewölben unterhalb des Petersdoms, um das Grab des Petrus zu erforschen. Über ein halbes Jahr lang hatte Shawn zusammen mit einem Team von Architekten und Ingenieuren die Gewölbe und jedes Schriftstück der letzten zweitausend Jahre in der Vatikanischen Bibliothek erforscht, um die endgültige Geschichte des Grabes von Petrus zu schreiben. Dabei untersuchten sie auch die Gebeine eines 1968 gefundenen Mannes ohne Kopf, die Papst Paul VI. als die Reliquien des Apostels anerkannt hatte. Seitdem galt Shawn als Experte für die Grabanlage, und falls Saturninus und Menander 65 n. Chr. tatsächlich den Schrein der Jungfrau Maria zusammen mit dem Simon-Evangelium begraben hatten, so wie es in dem Brief behauptet wurde, wusste Shawn ganz genau, wo er danach suchen musste.

    »Von den Sadduzäern und den Pharisäern habe ich ja schon gehört, aber von Essäern und Zeloten noch nie«, sagte Sana. »Wer waren diese Leute, von denen Saturninus schreibt?«
    »Das waren unterschiedliche jüdische Sekten, von denen die Sadduzäer und die Pharisäer sicher schon aufgrund ihrer großen Anzahl die bedeutendsten waren. Die Essäer waren eine kleine, regionale Gruppe, asketisch und militant, die glaubte, dass der Tempel in Jerusalem entweiht worden sei. Es gab zwar in fast allen Städten in Palästina kleine Zellen der Essäer, aber ihre bedeutendsten Anführer und