Obduktion
einsamer Verkäufer wälzte einen dicken Katalog.
Shawn und Sana waren erstaunt über die Stille. Sie war beklemmend wie in einer Kirche. Die wenigen Geräusche, die man hörte, wurden gedämpft durch die Fülle der Artikel, die in Kartons aller Größen und Variationen übereinandergestapelt waren. Eine schwarz-weiße Katze schlief zusammengerollt auf dem leeren Karton eines Luftbefeuchters. Die Atmosphäre hatte nichts zu tun mit den Eisenwarenläden, die Shawn aus seiner Kindheit im Mittleren Westen der USA kannte. Dort waren diese Geschäfte voll und laut, und sie waren nicht nur ein Ort, wo man einkaufte, sondern auch ein Treffpunkt.
Er gab Sana ein Zeichen, ihm in die Tiefen des Ladens zu folgen. »Lass uns die Sachen selbst zusammensuchen«, flüsterte er.
»Warum flüsterst du?«
»Weiß ich auch nicht«, wisperte er zurück und sagte dann in normaler Lautstärke: »Es ist lächerlich zu flüstern. Ich glaube, ich wollte mich nur anpassen. Andere Länder, andere Sitten.«
Zuerst ging Shawn in die Haushaltsabteilung. Er gab Sana, die ihm folgte, zwei ineinandergestapelte Eimer und ging weiter in Richtung Taschenlampen und Batterien. Er suchte zwei Lampen und mehrere Ersatzbatterien aus. Als er sie in die Eimer legte, sah er aus dem Augenwinkel etwas, woran er noch gar nicht gedacht hatte: gelbe Bauhelme aus Plastik mit bereits vormontierten, batteriebetriebenen Taschenlampen. »Auf Stirnlampen wäre ich gar nicht gekommen«, gab Shawn zu. »Genau das, was wir brauchen.« Beide setzten sich einen Helm auf und lachten verschwörerisch beim Anblick des anderen.
»Okay, los geht’s«, sagte Shawn, und Sana nickte. Sie behielten ihre Helme auf, als sie ihren Weg in die Werkzeugabteilung fortsetzten. Shawn nahm einen Stockhammer und mehrere Steinmeißel. Dann sah er noch drei weitere Dinge, an die er nicht gedacht hatte, die aber unbestritten praktisch sein würden: Schutzbrillen, Arbeitshandschuhe und Knieschoner. Zum Schluss griff er noch eine Black-&-Decker-Bohrmaschine mit dem passenden Akkupack und verschiedene, austauschbare Bohraufsätze. Sie zahlten und kehrten zum Hotel zurück, wo sie erst einmal alles verstauten und Shawn den Akku zum Laden in die Steckdose steckte.
»Hast du gesehen, wie spät es ist?«, fragte Sana. »Wir haben nur noch eine Stunde Zeit.«
»Das wird knapp«, sagte er und sah auf seine Uhr.
»Vielleicht sollten wir unseren Romaufenthalt um einen Tag verlängern. Das Ufficio Scavi könnte bereits geschlossen sein, wenn wir dort ankommen.«
Shawn sah seine Frau überrascht an. Am Tag zuvor konnte sie gar nicht schnell genug zurück nach Hause kommen, und nun schlug sie vor, noch einen Tag dranzuhängen. »Und was ist mit dem Experiment, um das du dir solche Sorgen gemacht hast?«
»Du hast mich eben davon überzeugt, dass dies hier wichtiger ist.«
»Ich freue mich ja auch sehr darüber. Lass uns trotzdem versuchen, heute zur Ausgrabung zu gehen. Um ehrlich zu sein, ich bin so aufgeregt, ich würde es keinen Tag länger aushalten. Ich könnte mir sogar vorstellen, das Ossuarium heute Nacht zu holen, selbst wenn wir vorher nicht mehr in der Lage wären, den Ort auszukundschaften. «
»Na gut«, sagte Sana, »versuchen wir es.«
Trotz des Feierabendverkehrs war der Portier des Hasslers in der Lage, ihnen innerhalb weniger Minuten ein Taxi zu beschaffen. Während ihrer Fahrt durch die Stadt brachten Shawn und Sana kein Wort heraus, so angespannt waren sie.
Der Taxifahrer, dem vielleicht nicht entgangen war, dass Shawn und Sana ständig auf die Uhr schauten, raste wie ein Formel-eins-Fahrer. Er schlängelte sich so geschickt durch den Verkehr, dass er es schaffte, sie zwanzig Minuten früher als geplant am Arco delle Campane, dem Glockentor, im Schatten des Petersdoms abzusetzen. Es regnete mittlerweile wie aus Kübeln. Shawn und Sana drängten sich unter einem Regenschirm eng aneinander und liefen los, um unter dem Torbogen Schutz zu finden. Als sie dort ankamen, wurden sie von zwei Männern der Schweizergarde aufgehalten. Sie trugen
schwarz-orange gestreifte Uniformen mit weiß abgesetzten Kragen und weichen, schwarzen Baretts. Einer von ihnen nahm Shawns Ausweis, hielt ihn zum Abgleich neben dessen klitschnasses Gesicht, gab ihn zurück, salutierte und winkte sie hinein. Dabei fiel kein einziges Wort.
Zurück unter freiem Himmel waren sie wieder dem vom Wind gepeitschten Regen ausgesetzt. Sie rannten quer über den kopfsteingepflasterten Platz, der an die Südseite des
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