Obduktion
etwas ausgefressen hat, vor dem Schreibtisch von Mrs Sanford aufzustellen. Wenn Angestellte unangemeldet aufkreuzten, ignorierte sie diese normalerweise und tat, als sei sie viel zu beschäftigt, um auch nur hochzuschauen. Jack vermutete, dass sie auf diese Weise den Respekt einforderte, der ihr ihrer Meinung nach zustand, weil sie bereits seit Adam und Eva auf diesem Posten saß und Bingham beschützte. Es hatte gar keinen Zweck, sich dagegen aufzulehnen. Sie würde Bingham nicht einmal wissen lassen, dass man da war, wenn sie es nicht für richtig hielt.
Mehrere Minuten vergingen, bevor sie endlich den Kopf hob, Jack ins Auge fasste und dabei tat, als hätte sie ihn eben erst bemerkt.
»Ich muss mit dem Chef reden«, verlangte Jack, der sich nicht im Mindesten von ihr täuschen ließ.
»In welcher Sache?«
»Eine persönliche Angelegenheit«, antwortete Jack mit feinem, zufriedenem Lächeln. Er würde sich von ihrer Fragerei nicht einschüchtern lassen. »Ist er da?«
»Ja, aber er telefoniert, und ein anderes Gespräch ist schon in der Leitung«, antwortete sie befriedigt. Sie nickte zu ihrem Telefon hinüber, an dem ein Lämpchen heftig blinkte. »Ich werde ihm ausrichten, dass Sie warten.«
»Mehr kann ich nicht verlangen«, antwortete Jack und setzte damit das Spielchen fort.
Jack setzte sich auf eine Bank genau gegenüber von Mrs Sanfords Schreibtisch. Es erinnerte ihn an die vielen Male, die er während seiner letzten Schuljahre vor dem Büro des Rektors hatte antreten und darauf warten müssen, hineingerufen zu werden. Man hatte ihn als Dauerschwänzer abgestempelt.
Während er wartete, ließ Jack sich das unvorhergesehene Gespräch mit James durch den Kopf gehen und stellte fest, dass es ihn selbst brennend interessierte, was sich in dem Ossuarium befand, ob vielleicht Knochen und eine Art Manuskript darin wären und wie die ganze Sache ausgehen würde. Anfangs hatte er gedacht, dass es James niemals gelingen würde, Shawn davon zu überzeugen, seine Funde nicht zu publizieren, aber er hatte James auch früher schon ab und zu falsch eingeschätzt. Schließlich war Shawn von sehr gläubigen Eltern im katholischen Glauben erzogen worden. Beide hatten sich als Laien in der Kirchengemeinde engagiert, und sie hatten sogar versucht, Shawn zur Priesterschaft zu überreden. Obwohl er kein praktizierender Katholik mehr war, kannte sich Shawn mit der katholischen Kirche sehr gut aus. Vielleicht hatte er doch einigen Respekt vor den möglichen Problemen, die er mit einer Verunglimpfung der päpstlichen Unfehlbarkeit — und in gewisser Weise
auch der Ehre der Mutter Maria selbst — auslösen würde. Mit Sicherheit wusste er mehr über solche Dinge als Jack. Darum war er sich plötzlich gar nicht mehr so sicher, wie die Sache ausgehen würde.
»Dr. Bingham hat jetzt Zeit für Sie«, unterbrach Mrs Sanford Jacks Gedanken.
»Haben Sie Ihre Meinung über die Beurlaubung geändert? «, fragte Bingham, als er sein Büro betrat, noch bevor Jack selbst etwas sagen konnte. Er schaute Jack über den Rand seiner Metallbrille hinweg an. »Falls ja, lautet die Antwort ja. Bitte kümmern Sie sich um Ihr Kind. Ich werde ganz krank vor Sorge, wenn ich nur daran denke.«
»Vielen Dank für Ihre Besorgnis. Aber solange sich Laurie um ihn kümmert, ist er in besten Händen. Verglichen mit ihr, bin ich selbst ein Pflegefall.«
»Das kann ich zwar nicht glauben. Aber ich nehme Sie beim Wort.«
Wenn du wüsstest, wie falsch du liegst, dachte Jack bei sich. Laut sagte er: »Ich weiß, dass Sie viel zu tun haben, aber der Erzbischof bittet Sie um einen Gefallen.«
Bingham richtete sich auf und starrte Jack schockiert an: »Sie sind wirklich zum Mittagessen beim Erzbischof gewesen?«
»Klar, warum denn nicht?«, fragte Jack. Da er James schon so lange kannte, schien ihm nichts Besonderes dabei zu sein, ihm einen Besuch abzustatten.
»Warum nicht?«, fragte Bingham. »Er ist eine der einflussreichsten und wichtigsten Persönlichkeiten der Stadt. Warum zum Teufel lädt er Sie zum Essen ein? Hat es etwas mit Ihrem Sohn zu tun?«
»Himmel, nein!«
»Womit dann? Wenn Sie mir die Frage erlauben, es geht mich ja eigentlich nichts an.«
»Aber sicher«, antwortete Jack. »Wir sind so was wie
alte Freunde. Wir kennen uns vom College und standen uns ziemlich nahe. Wir haben unseren Abschluss zusammen mit noch einem anderen Freund gemacht, der auch hier in der Stadt lebt.«
»Das ist in der Tat außergewöhnlich«, sagte Bingham.
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