Obduktion
Forschergruppen gestattet hatte, die Räumlichkeiten zu nutzen.
Jack schnappte sich seine Jacke und den Regenschirm. Er brannte darauf, sich mit Naomi in Verbindung zu setzen und den Laborplatz vorbereiten zu lassen. Ganz in
Gedanken versunken rannte er Chet buchstäblich in die Arme, der gerade aus dem Fahrstuhl kam.
»Hey, wohin so eilig?«, fragte Chet, dem fast sein Tablett mit den Gewebeproben aus der Hand gefallen wäre.
»Das könnte ich dich auch fragen«, antwortete Jack.
»Ich wollte mal bei dir reinschauen«, sagte Chet. »Ich habe die Namen und Aktenzeichen von ein paar dieser alten VD-Fälle gefunden.«
»Du brauchst nicht weiter nach den alten Fällen zu suchen«, entgegnete Jack. »Mein Interesse ist erlahmt.«
»Wie ist das möglich?«
»Ich sag mal so, ich habe so ziemlich die gleichen Reaktionen geerntet wie du, als du dich damals mit dem Thema beschäftigt hattest. Ich habe den Eindruck, die Öffentlichkeit reagiert auf Fragen, die die Alternativmedizin betreffen, mit geradezu religiösem Eifer. Die Leute glauben an alternative Medizin, weil sie daran glauben wollen. Jeder Beweis, dass sie nicht wirkt oder geradezu gefährlich ist, wird einfach abgetan.«
»Okay«, sagte Chet. »Wie du meinst. Lass es mich wissen, falls du deine Meinung noch einmal ändern solltest.«
»Danke, mein Freund«, antwortete Jack und stieg in den Fahrstuhl.
Draußen geriet er wieder in den Regenguss, der ihn schon bei seiner Ankunft erwischt hatte. Weil er nur einen kleinen Schirm dabeihatte, war er von der Hüfte abwärts komplett durchnässt, als er das DNA-Labor erreichte.
Naomi Grossmans Büro befand sich in einer der oberen Etagen. Als Jack Naomis Sekretärin gegenüberstand, fiel ihm ein, dass er vielleicht vorher hätte anrufen sollen. Naomi war die Direktorin der größten Einzelabteilung des OCME. Die DNA-Analyse hatte in der Rechtsprechung und Identifikation enorm an Bedeutung gewonnen,
und nicht umsonst hatte die Abteilung ein eigenes Gebäude bekommen.
»Ist Dr. Grossman zu sprechen?«, fragte Jack.
»Ist sie«, sagte die Sekretärin. »Und wie ist Ihr Name?«
»Dr. Jack Stapleton«, antwortete Jack, der erleichtert war, dass Naomi erreichbar war.
»Sehr erfreut«, sagte die Sekretärin und streckte ihre Hand aus. »Ich bin Melanie Stack.« Sie war jung und freundlich, ganz besonders im Vergleich zu der alten Sekretärin in Binghams Büro. Anstatt sich zu verschanzen, war sie offen und hilfsbereit. Sie war auf eine attraktive, jugendliche Weise gekleidet und hatte ihr langes, glänzendes Haar mit einer Haarspange zusammengebunden.
Für Jack war Melanie eine typische Vertreterin des OCME-DNA-Labors. Die meisten Menschen, die hier arbeiteten, waren jung und voller Energie, und alle wirkten so, als wären sie mit Freude und gerne bei der Arbeit. Die Genforschung war ein junger Wissenschaftszweig mit enormem Potenzial, und es war angemessen, ihr ein Zentrum in einem neuen, strahlenden Gebäude einzurichten. Jack bedauerte in mancherlei Hinsicht, nicht selbst hier zu arbeiten.
»Ich frage kurz bei Dr. Grossman nach«, sagte Melanie und erhob sich hinter ihrem Pult.
Als Melanie für einen Moment verschwand, suchte Jack Blickkontakt mit den anderen Sekretärinnen. Jede erwiderte sein Lächeln. Obwohl von draußen der Regen gegen die Scheiben prasselte, erschien dieses Büro Jack voller Optimismus und von einem frischen Wind erfüllt.
»Dr. Grossman lässt bitten«, sagte Melanie, die schon einen Augenblick später zurückgekehrt war.
Jack betrat das Eckbüro, das einen überwältigenden Ausblick über den East River bot.
Naomi saß hinter einem großen Mahagonischreibtisch
mit einem Eingangskorb, der Jack an seinen eigenen erinnerte. Wie fast jeder in dem Gebäude war Naomi relativ jung, vielleicht Mitte dreißig. Ihr ovales Gesicht war von einem Heiligenschein bemerkenswert lockigem Haar umrahmt. Ihre dunklen Augen strahlten, und ihr Ausdruck war freundlich, aber fragend, so als ob ihr offenkundig hellwacher Verstand immer ein bisschen an dem zweifelte, was sie zu hören bekam.
»Was für eine nette Überraschung«, sagte Naomi, als Jack auf ihren Schreibtisch zuging. »Womit haben wir diese Ehre verdient?«
»Ehre?«, fragte Jack und grinste. »Ich wünschte, ich hätte Ihre Begabung, Menschen gute Laune zu verschaffen. «
»Aber es ist wirklich eine Ehre. Wir existieren schließlich nur, um die forensischen Pathologen zu unterstützen. Wir alle hier sind nur ein kleines Rädchen im
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