Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
Vom Netzwerk:
häßlich. Sie war auch unerhört gutmütig. Ihre Augen waren immer ein bißchen wäßrig, ein bißchen feucht, vielleicht hing das mit dem leichten Vorquellen zusammen. Ihre Schilddrüse war nicht ganz in Ordnung, und mit diesen feuchten Augen schaute sie sanft in die Welt. Vater prügelte und schimpfte, Mutter brauchte Henk und mich nur anzublicken, und alles war wieder gut. Sie hat uns sehr oft angeblickt.
    Henk war Vaters Junge, ich war nicht Mutters Junge. Sie machte keinen Unterschied zwischen uns; obwohl es mir in der Zeit, als Riet bei uns am Tisch saß, schon auffiel, daß Mutter öfter mich anblickte als Henk. Das war kein »Gutblicken«, es war eine Art Vorwärtsblikken, vorwärts im Sinne von »na los!«. Mutter verstand sich sehr gut mit Riet, aber ihre Anwesenheit stürzte sie auch in einen Zwiespalt: Ihre Jungen waren nun, ganz unabhängig von ihrer Einstellung zu uns, nicht mehr gleich. Vater hatte solche Sorgen nicht, der hatte schon lange vorher seine Wahl getroffen.
    Als sie starb (nicht an dieser überproduktiven Schilddrüse, sondern an einem Herzinfarkt), konnte Vater nicht den Löffel in seiner Kaffeetasse springen lassen, wie nach Henks Tod, es war ja niemand da, der darauf reagiert hätte. Gut, ich war da, aber mich derartig zu reizen, hätte er sich dann doch nicht getraut. Wir tranken einfach keinen Kaffee, oder jeder trank für sich allein Kaffee. Ada wohnte noch nicht nebenan, sie hat Mutter nicht gekannt.

    Sie bekam den Herzinfarkt, als sie unter der Dusche stand. Es war also an einem Samstag. Ich war nichtim Haus, Vater kam nicht auf die Idee, mal nach ihr zu schauen, obwohl sie viel länger als gewöhnlich im Badezimmer blieb. Es gibt Menschen, die einen Herzinfarkt bekommen und einfach weitergehen, und es gibt Menschen, die zusammenbrechen und nie mehr aufstehen. Mutter stand nie mehr auf.

    Ich habe es ihr nicht übelgenommen, daß sie damals geschwiegen hatte, an dem Tag, als Vater Riet wegschickte und zu mir sagte, ich sei »fertig da unten in Amsterdam«. Angenommen, sie hätte , statt zu weinen, etwas gesagt, um mir ein Leben unter den Kühen zu ersparen – hätte ich mich entsprechend verhalten? Hätte ich ihre Vorlage ausgenutzt, um meine Haut zu retten? Ich glaube nicht. Ich war neunzehn, ich war schon ein Mann, ich hätte für mich selbst sprechen können. Das tat ich nicht, ich schwieg, wie Mutter. Lange nachdem Riet hinter der Fensterlaibung verschwunden war (das heißt, als sie bestimmt schon auf dem Deich war und ich mehr als genug Zeit gehabt hatte, auf die Weiden hinauszustarren und mir eine Stelle zu merken, an der ich vielleicht ein Nest mit Kiebitzeiern finden könnte), drehte ich mich um. Links von Vaters Rücken sah ich Riets halb geleerten Teller mit dem ordentlich abgelegten Besteck daneben. Rechts von Vaters Rücken sah ich Mutter, die mich mit noch feuchterem Blick anschaute als sonst. In diesem Augenblick schlossen wir ein Bündnis. Worin genau dieses Bündnis bestand, könnte ich nicht einmal sagen; was es auf jeden Fall einschloß, war ein Wir-schlagen-uns-gemeinsam-durch. Ich setzte mich wieder an den Tisch, und wir beendeten schweigend unsere Mahlzeit. Am nächsten Morgen molk ich mit Vater zusammen die Kühe. Nach dem Melken stopfte ich alle meine Lehrbücher in einen Karton und stellteihn in den Einbauschrank in Henks Zimmer. Wochen später erst kam ein Brief von meinem Tutor, in dem er mich fragte, wo ich abgeblieben sei und ob ich vorhätte, noch einmal wiederzukommen. Ich habe den Brief zu den Büchern getan, ohne ihn zu beantworten. Seitdem habe ich keinen Gedanken mehr an den Karton verschwendet.

    Unser Bündnis hatte bis zu ihrem Tod Bestand. Es war ein Bündnis der Blicke, nicht der Worte. Mutter und ich blickten uns an, wenn er ins Schlafzimmer verschwand, nachdem er sie als romantische Seele bezeichnet hatte; wenn er knurrend Sehnen aus einem Stück Schmorfleisch herausschnitt; wenn er brüllend herumstiefelte, während wir die Jungrinder oder die Schafe auf eine andere Weide brachten; wenn er zu Silvester um zehn Uhr ins Bett ging; wenn er mir frühmorgens meine Aufgaben für den Tag zuschnauzte (als wäre ich ein fünfzehnjähriger Junge, nicht ein erwachsener Mann von vierzig Jahren); wenn er bei jeder Diskussion, egal, worüber, »davon will ich nichts hören« sagte und anschließend wie versteinert in seinem Wohnzimmersessel saß.
    Nur ganz selten vermied sie es, mich anzublicken, und das war fast immer dann, wenn Vater mich fragte, ob

Weitere Kostenlose Bücher