Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
Armaturenbrett kriechen, den Rückwärtsgang einlegen und den Wagen mit dem Heck voran ins IJ steuern – wenn es sein muß, durch die Frittenbude durch. Vielleicht versucht sie mich ja zu retten.
Sie bleibt vor dem Auto stehen und schaut durch die Windschutzscheibe herein. Einen Augenblick zögere ich noch, dann öffne ich die Tür. Sie kommt mit ausgestreckten Armen auf mich zu.
»Hallo Helmer«, sagt sie.
»Hallo Riet«, sage ich.
Sehr alte Wut kommt hoch, eine Wut, an die ich mich nicht erinnern kann, von der ich nicht wußte, daß sie irgendwo in mir steckte. Riet, das sehe ich, hat nicht mit Wut, sondern mit Verwirrung und Rührung zu kämpfen. Je länger Henk tot ist, desto ähnlicher werde ich ihm, ganz einfach, weil es keine Vergleichsmöglichkeit mehr gibt.
Nein, Wut ist ein zu großes Wort, es ist eher Groll.
Wie ist das, wenn man etwas mit einem Zwilling hat, der einen Hälfte eines Doppelpacks? Ich weiß es nicht; von Kindereien in der Grundschule abgesehen, ist so etwas bei mir nie vorgekommen. Auf den Heiligabend war ein Weihnachtstag gefolgt, an dem Henk meistens abwesend vor sich hin summte, teilweise sogar während des Essens. Bei Roastbeef mit Blumenkohl und Béchamelsoße beantwortete er alle Fragen der Großeltern mit einer Ausführlichkeit, die Vater offensichtlich verblüffte und Mutter dazu brachte, mich so anzublicken, wie es ihr erst später, zur Zeit unseres Bündnisses, zur Gewohnheit werden sollte. An Silvester war er zu Hause, zwei Minuten nach Mitternacht war er verschwunden, ohne mir zu sagen, wo er hinging. Spät in der Nacht sah ich sie, als ich mit der Gruppe von Bauernsöhnen, der wir bis vor einer Woche beide angehört hatten, die Brücke bei De Waegh überquerte. Sie saßen im Nieselregen auf einer Bank und hielten sich bei den Händen. Ich versuchte mich hinter dem breitesten Bauernsohn zu verstecken und sah in zwei, drei Schritten Entfernung einen rotzblauen VW-Käfer stehen, zu dem ich es vielleicht ungesehen schaffen konnte. Der breiteste Bauernsohn war auch derjenige, der am meisten getrunkenhatte, und so drängelte er sich zur Bank vor und sprach Henk an, wobei er mich ungedeckt zurückließ. Diesen rotzblauen Käfer sehe ich noch ganz deutlich vor mir; was geredet wurde, habe ich vergessen. Zwei weitere Dinge gibt es, die ich nicht vergessen habe. Nummer eins: Henk bemerkte mich hinten in der Gruppe, und während er mit dem betrunkenen Jungen redete und dabei Riets Hand nicht einen einzigen Augenblick losließ, wich er meinem Blick möglichst aus. Das war noch nie vorgekommen. Nummer zwei: Etwas später entdeckte mich auch Riet, und ich sah, daß sie mich einfach nicht sehen wollte ; sie wollte nicht wissen, daß dort jemand war, der Henk glich wie ein Ei dem andern. Ich löste mich von der Gruppe und schlüpfte hinter dem Käfer in eine Gasse, zum Glück gibt es in Monnikkendam jede Menge Gassen. Nach etwa hundert Metern stützte ich mich mit der Hand an eine feuchte Mauer, beugte mich vor und gab alle Ölkrapfen und alles Bier wieder von mir. Dann machte ich mich auf die Suche nach meinem Rad und fand es schließlich, wo wir unsere Kneipentour begonnen hatten. Irgend jemand hatte mit Gewalt dicke Böller zwischen die Speichen des Hinterrads gezwängt, und entsprechend sah die Felge aus. Ich hängte mir das Fahrrad über die Schulter und ging zu Fuß nach Hause, wobei ich das Rad abwechselnd auf der rechten und auf der linken Schulter trug. Unterwegs leckte ich Tropfen von der Fahrradklingel, um den fiesen Geschmack im Mund loszuwerden. Spät in der Nacht ging in früh am Morgen über. Nieselregen ist kaum mehr als Nebel mit Größenwahn, trotzdem war ich durchweicht, als ich zu Hause ankam.
Es dauerte noch Monate, bis Henk Riet mitbrachte. Als sie das erste Mal zu uns kam, zeigte sich das Landgerade wieder von seiner schönsten Seite. Es war die Zeit, in der sich die Lämmer auf der Koppel gierig unter die Mutterschafe ducken, Kiebitze beim Verteidigen ihrer Nester ihren eigenen Namen rufen, die Kopfweiden schon austreiben und die krumme Esche im Vorgarten kurz davor ist. Hellgrüner Frühling, in dem sogar ein Misthaufen frisch aussehen kann. Vater hielt Abstand, Mutter hieß Riet mit offenen Armen und feuchten Augen willkommen.
Ich hatte sie inzwischen ein paarmal gesehen und war befangen und unsicher in ihrer Gegenwart. Sie war ungeschickt und still in meiner Gegenwart. Nun kam sie zu uns, und ich wußte gar nicht mehr, wie ich mich verhalten sollte. Gleich
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