Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
mir als von Wien. Nach Wiens Tod habe ich alles verkauft, und jetzt wohne ich im Dorf, mit meinem Sohn. Das ist schon seltsam: Mann gestorben, Umzug, kaum noch etwas zu tun.
Ich schreibe diesen Brief, weil Du mir nicht geschrieben oder mich angerufen hast. Ich bin neugierig, wie es Dir ergangen ist. Ich weiß nicht einmal, ob Du verheiratet bist, aber ich glaube nicht, denn meine Mutter hat mir noch kurz vor ihrem Tod erzählt, daß Du nicht geheiratet hast. Ja, Du merkst schon, daß ich Dich im Auge behalten habe, soweit das möglich war. Und ich möchte Dich etwas fragen, aber das würde ich lieber nicht in einem Brief. Schreibst Du mir mal oder rufst mich an?
Warum soll ich es Dir nicht schreiben: Ich würde Dich sehr gern besuchen. Dich, aber auch den Hof, auf dem ich doch oft gewesen bin (und auf dem ich, wenn alles anders gelaufen wäre, jetzt selbst wohnen würde). Aber dann müßte die Frage hinsichtlich DeinesVaters (die ich in meinem vorigen Brief erwähnt habe) geklärt sein.
Ich hoffe von Dir zu hören,
ganz viele Grüße
Riet.
Diesmal steht eine Adresse auf der Rückseite des Umschlags. Der Name des Dorfs sagt mir nichts. Mir ist nicht klar, was sie von mir will. Ein ziemlich wirrer Brief, wie der vorige. Beim ersten Mal war ich einfach »Helmer«, jetzt bin ich »lieber Helmer«. Ich habe das Gefühl, daß sie mich neugierig machen will. Was sie mich fragen möchte – wie sie schon im ersten Brief geschrieben hatte –, ist das nur, ob sie mich besuchen darf? Oder etwas anderes? Der Zusatz »und auf dem ich, wenn alles anders gelaufen wäre, jetzt selbst wohnen würde« ärgert mich, auch weil er in Klammern steht, wie irgendeine gleichgültige Bemerkung. Was sie am Schluß schreibt, ist wohl so zu verstehen, daß ich ihr Vaters Ableben melden soll, sonst kommt sie nicht.
Unbeständiges Tauwetter. Manchmal steigt die Temperatur für kurze Zeit über den Gefrierpunkt, es ist neblig, und ab und zu regnet es, obwohl es auch tagsüber die meiste Zeit friert. Aber das Eis ist von einer Schicht Wasser bedeckt, und die weißgelben Eissäume an den Grabenrändern, wo das Grundwasser austritt, werden immer breiter. Das mit dem Nebel ist seltsam, bei Nebel erwartet man warme Luft. Meine Runde Monnickendam-Watergang kann ich wohl vergessen, ich habe die Schlittschuhe schon weggeräumt. Die Esel bleiben im Stall. Die Hühner legen kaum noch. In Vaters Zimmer sind die Eisblumen von den Scheiben gerutscht, auf der Fensterbank hat sich eine kleine Pfütze gebildet. Er hatden Apfel gegessen. Wie er das geschafft hat, ist mir ein Rätsel. Er muß ordentlich Hunger gehabt haben.
Zwanzig Kühe. Ein Anbindestall mit Grüppe, aus der Vorkriegszeit. Ein paar Kälber und eine Handvoll Jungrinder. Dreiundzwanzig Schafe. Nein, zwanzig. Ich bin noch weniger als ein Kleinbauer. Aber der Anstrich ist tadellos in Ordnung, und kein Dachziegel hängt schief.
Am Nachmittag kommt der junge Milchfahrer. Ich gehe nicht in die Milchkammer. Durch das Stallfenster, das beim Anbau der Milchkammer von der Außenwand des Stalls in die Wand zwischen Milchkammer und Waschküche versetzt wurde, kann ich ihn sehen. Es ist dunkel in der Waschküche; wenn die Türen zum Stall, zum Flur und zur Milchkammer geschlossen sind, kommt nur durch dieses Stallfenster Licht. Nebelschwaden scheinen an den riesigen Flanken des Wagens vorbei in die Milchkammer zu kriechen. Der Milchfahrer lächelt, obwohl es eine ziemlich kümmerliche Menge Milch ist, die durch den Schlauch in seinen Wagen fließt. Wieder habe ich seinen Namen vergessen, und je mehr ich mich bemühe, ihn an die Oberfläche zu holen, desto tiefer sinkt er; etwas mit einem O, das weiß ich noch. Er bohrt den kleinen Finger in die Nase, eigentlich möchte ich mich abwenden. Ich habe nicht den Eindruck, daß er auf mich wartet, es scheint ihm egal zu sein, ob ich ein paar Worte mit ihm wechsle oder nicht.
Genügt es, daß der Anstrich tadellos in Ordnung ist und kein Dachziegel schief hängt? Daß die Weiden sorgfältig gekappt sind und die Esel warm und wohlgenährt in ihrem Stall stehen?Natürlich bin ich neugierig auf Riet. Natürlich möchte ich, daß etwas geschieht. Ich möchte wissen, was aus dem hübschen Mädchen mit den langen blonden Haaren – der Frau, die meinen Bruder heiraten wollte – geworden ist, ich möchte hören, was sie zu erzählen hat, ich möchte sehen, was ihre Augen sagen. Ich warte, bis der junge Milchfahrer elastisch wie immer ins Fahrerhaus gesprungen
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