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Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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teilten sich einen Küchenstuhl. Ronald sah Vater ein bißchen ängstlich an und bekam seine Krapfen nur schwer herunter. Nicht weniger als dreimal sagte Vater zu Ada, er wolle zum Arzt. Ich hob bedeutungsvoll die Augenbrauen, als sie mich nach dem dritten Mal fragend anschaute.
    »Gute Besserung, Herr van Wonderen«, sagte sie, als ich ihn aus der Küche trug.
    »Ist oben denn geheizt?« fragte sie besorgt, als ich wieder unten war.
    »Nein«, sagte ich. »Aber er ist zäh. Nur schade, daß er nicht mehr ganz klar ist. Es geht rapide bergab mit ihm.«
    »Stirbt er bald?« fragte Ronald, der, jetzt ganz unbeschwert, schnell noch einen Ölkrapfen aß.
    »Ronald!« sagte Ada.
    »Und wann machen wir nun Feuer?« fragte Teun.
    Dann die Esel, dann das Neujahrsfeuer, dann ein glühendes Brett (von meinem alten Bettgestell) auf Ronalds Hand. Er hatte etwas zu eifrig mit einem dicken Zweig im Feuer gestochert.

    »Fertig!« ruft Vater. Das Wasser der Spülung gurgelt dumpf, als wäre der Deckel zu.
    Ich stehe schon geraume Zeit im Flur, vor der Toilettentür. Die Ölkrapfen haben seinen Darm in Schwung gebracht. Ich ziehe die Nasenflügel zusammen, öffne die Tür und helfe ihm auf. Er zerrt selbst seine Schlafanzughose hoch. »Hände waschen«, sage ich.
    Er nimmt das Stück Seife vom Beckenrand, ich drehe den Wasserhahn auf.
    Als ich ihn nach oben trage, frage ich: »Weißt du eigentlich, welcher Tag heute ist?«
    »Weihnachten?« fragt er.
    »Neujahr. Du bist nicht mehr ganz klar.«
    »Ach nein?«
    »Nein.«
    »Du bist selbst nicht ganz klar. Ich bin nicht verblödet.«
    »Wie du meinst«, antworte ich, während ich ihn ins Bett lege.
    »Ada war gestern abend hier«, ergänzt er.
    »Ja, das stimmt.« Ich setze mich auf den Stuhl am Fenster. Vielleicht muß ich doch einen elektrischen Radiator kaufen, es ist feucht hier drin; nicht daß Vater noch irgendwelche fürchterlichen Pilze bekommt. Ich lege meine Ellbogen auf die Armlehnen und reibe mir die Hände. Die Wand mit Fotos, Sticklappen und Bildern ist ein großes Rechteck mit kleinen Rechtecken und Quadraten darin, mehr nicht. Ich stehe auf und schalte die Lampe an. Dann gehe ich wie ein Museumsbesucher, Hände auf dem Rücken, ganz langsam an der Wand entlang, bevor ich mich wieder hinsetze. »Warum hat deine Mutter zu unserer Geburt eigentlich zwei Lappen bestickt statt einen?«
    »Das mußt du sie selbst fragen«, sagt Vater ärgerlich.
    »Das geht nicht.«
    »Nein, das geht nicht«, sagt er mit einem Seufzen.
    »Weil sie dachte, daß einer von uns nicht überleben würde?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Daß man dann einen wegwerfen könnte?«
    »Mußt du nicht melken?«
    »Gleich, die Kühe laufen nicht weg.«
    »Na . . .«
    »Ökonomisch gedacht, das muß man zugeben«, sage ich. »Nein, nicht ökonomisch, praktisch.«
    »Ja, praktisch«, stimmt Vater zu.
    »Aber wenn jemand neunzehn ist, wenn er stirbt, dann nimmt man seinen Sticklappen nicht mehr von der Wand.«
    »Nein.«
    Ich rede, aber ich weiß kaum, was ich sage. Das Telefongespräch mit Riet geht mir nicht aus dem Kopf. Das ist es, wovon ich sprechen will, damit wollte ichihn ärgern, statt dessen ärgere ich ihn mit unseren Sticklappen. Bis vor fünf Minuten hatte ich mich noch nie gefragt, warum Großmutter van Wonderen zwei einzelne Lappen bestickt hat. Einer muß schon ein schönes Stück Arbeit gewesen sein. Wußte Mutter überhaupt, daß sie Zwillinge bekommen würde? Ich seufze und schließe die Augen. Ich habe gar keine Lust, Vater zu ärgern. Es ist Neujahr.
    »Was hast du?« fragt Vater.
    Ich öffne die Augen. »Nichts.« Ich stehe auf und gehe zur Tür, dann ziehe ich die Gewichte der Standuhr hoch. »Heute abend Grünkohl?«
    »Lecker«, sagt Vater. Die Freude ist ihm anzusehen. Es ist unerträglich.
    »Licht an?«
    »Ja.«
    »Vorhänge zu?«
    »Ja.«
    Ich gehe noch einmal zum Fenster und schließe die Vorhänge. Die Straßenlampe vor dem Hof ist schon an. Seit sie repariert ist, kann niemand mehr ungesehen ins Haus starren.

    Von unten dringt schwaches Licht aus der Waschküche herauf. Die Tür des neuen Zimmerchens steht offen. Einladend offen: Komm und fülle mich. Ich schaue den Schlüssel an, der im Schloß der Schlafzimmertür steckt. Ich schaue ihn an, drehe ihn aber nicht um. Schnell gehe ich die Treppe hinunter.
    Ich rufe Ada an, um zu fragen, wie es Ronalds Hand geht.
    »Gut«, sagt sie, »war alles halb so wild.«
    Da bin ich froh. Es war mein Feuer.
19
    Mutter war nicht nur unerhört

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