Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
zu befreien, blökt und verdreht in panischer Angst die Augen. Ich denke nicht weiter nach und steige in den Graben, ohne die Stiefel auszuziehen. Es ist ein flacher Graben, aber als ich in die Knie gehe, um die Arme unter den Schafsbauch zu schieben,reicht mir das morastige Wasser bis an die Lippen. Ich versuche, das Schaf hochzuheben, meine Stiefel sinken immer tiefer in den saugenden Schlamm. Langsam, aber sicher kommt das Tier aus dem Wasser, ich habe es schon mit einer Flanke am Ufer. Als ich gerade denke, daß ich es schaffe, fängt das Schaf, das jetzt festen Boden spürt, heftig zu strampeln an. Ich verliere das Gleichgewicht und falle nach hinten, das Schaf rollt auf mich.
Meine Stiefel stehen wie in Beton gegossen im Schlamm, ich liege mit gebeugten Knien auf dem Rükken. So kann ich mich nicht hochstemmen. Einmal gelingt es mir, den Kopf über Wasser zu heben, an der nassen, bleischweren Wolle vorbei, und kräftig nach Luft zu schnappen. Dann drückt der Leib des Schafs
mich wieder nach unten. Ich glaube, daß ich seinen Herzschlag spüren kann, ein rasendes Klopfen, es kann auch mein eigener Herzschlag sein. Ich versuche,
meine Füße aus den Stiefeln zu ziehen. Von Furchtlosigkeit keine Spur, als mir langsam die Luft ausgeht. Seitwärts, ich muß versuchen, seitwärts unter dem
Schaf wegzukommen. Von wegen alterslos – nicht wenn ich als halb ertrunkenes Tier unter einem anderen halb ertrunkenen Tier liege. Zur anderen Seite,
linksherum, die linke Schulter hoch, in der Hoffnung, daß das Schaf dann von mir abrutscht. Seltsam, plötzlich sehe ich Jaap, wie er mir mit kraftvollen
Zügen davonschwimmt, und ich sehe mich selbst unbeholfen strampeln und zappeln, mit weit geöffnetem Mund, in dem immer wieder ein Schwall
IJsselmeerwasser verschwindet. Alles fortwaschen? Diese dreckige, stinkende Brühe, was soll die fortwaschen? Seine Haare schwammen wie Algen hin und
her . Ich muß den Mund öffnen, es geht nicht anders. Ich sehe statt Henk mich im Simca sitzen, undmeine Haare schaukeln wie Algen hin
und her, während Riet mich durch die Scheibe der Beifahrertür ansieht. Nicht erschrocken, nicht ängstlich, nicht mit Panik im Blick. Mit einem
Lächeln. Sie versucht nicht einmal mit aller Kraft, die Tür zu öffnen. Ich muß den Mund aufmachen. Ich kann die Arme nicht zwischen meinen Bauch und das
Schaf schieben; auch wenn ich versuchen würde, das Tier über meinen Kopf von mir abzurollen, würde ich es nicht schaffen.
III
42
Helmer, Du hast mich belogen. Henk hat mir von Deinem Vater erzählt. Ich dachte zuerst, er hätte den Verstand verloren. Der ist
doch tot und eingeäschert? fragte ich. Nein, sagte Henk, er liegt oben im Bett, ich höre ihn husten. Ich bringe ihm oft etwas zu essen, hat er noch
gesagt. Warum hast Du mich belogen? So etwas hätte ich nicht von Dir gedacht. Henk (Dein Bruder, der mein Mann geworden wäre) hätte mich nie
angelogen. Du warst für mich immer ein netter, ehrlicher, sanfter Junge, aber da habe ich mich offenbar getäuscht. Ich war bei Dir und bin durchs Haus
gegangen, und die ganze Zeit war auch Dein Vater da, hinter einer geschlossenen Tür! Mein Besuch erscheint jetzt in einem ganz anderen Licht. Ich hasse Deinen Vater, er hat mich weggeschickt, er hat mich fertiggemacht (oder glaubst Du vielleicht, daß ich in all den Jahrzehnten mit Wien ganz zufrieden und glücklich gewesen wäre? Daß ich gerne in Brabant lebe?).
Warum hast Du das getan? Weil ich sonst nicht gekommen wäre? Du denkst nur an Dich. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Henk denke. Henk war ein Junge, aber auch schon ein richtiger Mann, der mir gab, was ich wollte. Wien war ganz anders, er hat sich in gewisser Weise mehr für seine Schweine interessiert als für mich. Ich war zweite Wahl. Wenn Du wüßtest, was ich jede Nacht vor mir sehe. Immer dieses Auto und das IJsselmeer. Du hast mehr Ähnlichkeit mit Wien als mit Henk. Und dabei war ich an den paar Tagen nach Henks Tod bei Euch auf dem Hof wieder etwas zur Ruhe gekommen. Bei Deiner Mutter fand ich Halt, und ich dachte, daß es zwischen uns (Dir und mir) auchso etwas wie Verbundenheit gäbe. Es gab etwas, worauf wir aufbauen konnten, dachte ich.
Und dann noch etwas: Ich möchte Henk wiederhaben (nicht Deinen Bruder, sondern meinen Sohn). Er hatte hier Unruhe um sich verbreitet, aber jetzt merke ich, daß ich die Ruhe noch schlimmer finde. Ich möchte lernen, mit ihm zu reden, ich möchte ihn verstehen. Er ist mein Sohn.
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