Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
resolute Milchfahrerin Mitte Vierzig. Ich habe erst ein paar Worte mit ihr gewechselt, sie ist zugeknöpft und wie der alte Milchfahrer ein bißchen mürrisch.
»Fehlt dir dein Bruder?« fragt Henk.
»Was?«
»Ob dir dein Bruder fehlt. Henk.«
Ich schweige.
»Mir fehlen meine Schwestern überhaupt nicht.«
»Die leben noch.«
»Ja, stimmt. Wollten sie wirklich heiraten?«
»Ja.«
»Und ihr wart euch ähnlich?«
»Du hast doch sicher die Fotos in Vaters Zimmer gesehen.«
»Ja klar, aber. . .«
»Wir waren Zwillinge.«
»Warum hat sie sich in deinen Bruder verliebt und nicht in dich?«
»Was weiß ich.«
»Oder hat sie euch nicht gleichzeitig gesehen?«
»Doch. Wir waren zusammen in einer Kneipe.«
»Also warum?«
»Ich weiß es nicht, Henk. So kann es gehen in diesen Dingen.«
»Es hätte genausogut anders laufen können.«
»Tja . . .«
»Angenommen, sie hätte . . .«
»Hör auf.«
»Ich glaube, sie will dich heiraten.«
»Das hatte ich auch gedacht.«
»Jetzt nicht mehr?«
»Nein.«
»Ich glaube sogar, sie spannt mich dafür ein.«
»Wie?«
»Indem sie mich hierherschickt.«
»Du siehst zuviel fern.«
»Na ja, auf jeden Fall hat sie sich verrechnet.« Er kichert.
Ich schaue ihn an. »Es wird Zeit, daß du aus dem Bett kommst.«
»Nein. Ich bleib liegen.«
»Was schreibt sie?«
»Daß sie mich braucht und daß du ein Lügner bist und daß ich nach Hause kommen soll.«
Der Milchwagen fährt ab. Es wird still draußen. Mein Rücken erinnert mich daran, daß ich immer noch am Kippfenster stehe, unter der Dachschräge. Ich schiebe seine Kleider vom Stuhl und setze mich hin.
»Sie ist wütend. Auf meinen Vater, auf meine Schwestern, auf mich. Ich kenne sie nicht anders. Sie ist wütend auf alles und jeden, sogar auf die Schweine war sie wütend. Bestimmt ist sie auch auf dich wütend.«
»Ja.«
»Warum hast du ihr eigentlich gesagt, dein Vater wär tot?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
»Ich hab Zeit.«
»Nein, hast du nicht. Wir müssen die Schafe aufstallen.«
»Warum?«
»Sie werden jetzt bald ablammen.«
»Lammen, meinst du.«
»Ja.«
»Kannst du das nicht allein?«
»Nein. Ich brauch dich.«
»Muß ich dann rennen?«
»Das könnte sein.«
»Ich bin krank.«
»Gewesen.«
»Ich hab Angst.«
»Du bist jung, stell dich nicht an.«
»Ich will immer hierbleiben. Ich will nicht zu meiner wütenden Mutter zurück, nach Brabant. Ich hasse Brabant, ich hab da nichts verloren. Was fängt man mit Schwestern an?«
»Hast du denn hier was verloren?«
»Ja.« Zwei Handgelenke werden sichtbar. Er greift sich das Zigarettenpäckchen vom Nachttisch. »Das muß komisch sein«, sagt er. »Ein Zwillingsbruder. Einer, der genauso ist wie man selbst.« Er zündet sich eine Zigarette an.
Ich stehe auf und öffne das Kippfenster etwas weiter.
»Genau der gleiche Körper.«
»Wovor hast du eigentlich Angst?«
»Vor dem Sommer.«
»Was?«
»Der Sommer ist einsam und lang und hell.« Die Steppdecke ist ein Stück heruntergerutscht, seine Brust ist unbedeckt. Eine weiße, junge Brust, mit einem ängstlich klopfenden Herzen. Er stößt Rauch aus. Nicht in Richtung Fenster, sondern mir ins Gesicht. »Wenn man einen Zwillingsbruder hat, kennt man so was nicht. Dann ist man immer zu zweit.«
Er rennt natürlich doppelt so schnell wie ich. Er rennt sogar viel zu schnell, die Schafe laufen kopflos hin und her. Ich sage ihm, daß er vorsichtig sein soll, daß er esmit trächtigen Tieren zu tun hat. Als ich nach dem Melken wieder in den Schafstall gehe, sind schon zwei Lämmer da. Der Stall ist durch eine Hürde geteilt, auf der einen Seite ist die Ablammbox, auf der anderen die Gewöhnungsbox. Ich hebe die beiden Lämmer hoch, und eins der Schafe fängt an zu stampfen. Das ist die Mutter. Ich bringe das Mutterschaf und die Lämmer in die Gewöhnungsbox. Henk steht in der Tür und schaut zu. Sein Gesicht ist gerötet. Er schwitzt. Um seine Schultern herum bildet sich etwas Dampf.
»Komm«, sage ich.
Wir gehen über das schaflose, aber nicht leere Land zur Bosman-Mühle. An einem Grabenrand stehen zwei Graugänse. Außerdem sehe ich zwei Kiebitze, eine Schar Ringeltauben, ein Bachstelzenpaar und eine einsame Uferschnepfe. Als ich mir fast schon sicher bin, daß die Rotschenkel noch nicht da sind, fliegen zwei vorbei. Gleich wird die Sonne untergehen. Die Mühlenflügel drehen sich sehr langsam. Ich klappe den Steert ein und stelle dadurch die Mühle ab. Dann wische ich mir die Hände
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