Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
du mir kaum was zu essen gebracht. Und jetzt, wo ich selbst sage, daß ich nicht mehr will, sträubst du dich auf einmal. Laß mich doch gehn.«
Langsam drehe ich den Kopf zu ihm hin. Er ist nicht mehr munter. Jetzt sagt er mir Dinge, die er noch nie gesagt hat.
»Du erzählst, daß ich senil bin, weil dann nichts von dem wahr ist, was ich sage, egal zu wem.«
Ich schweige.
»Das eine Mal, als du mir Käsebrote gebracht hast, an dem Tag, als die Sonne so schön schien.«
»Ja?«
»Und du dachtest, ich würde schlafen.«
Ich frage nicht noch einmal »Ja?«. Er sagt »dachtest«, und das sagt genug.
»Ich weiß es, Junge, ich weiß es.« Er streicht mit der rechten Hand über die Decke neben seinen Beinen. Eine merkwürdige, weibliche Geste. »Nein«, sagt er dann, »ich hatte es mir gedacht. Und ich will nie mehr davon hören. Nie mehr.«
Der Nebel wird allmählich dünner, dünner und heller. Die Straße glänzt silbrig, das Wasser im Kanal kräuselt sich fast unmerklich. Ich stehe auf und gehe zur Tür. Was genau weiß er oder hatte er sich gedacht? Er willnie mehr davon hören, aber das ist nicht so einfach hinzubekommen wie das Nie-mehr-Essen.
Ich sehe mich neben dem Bett knien und die Stirn auf die Decke legen, und ich sehe Vaters alte Hand, die aufhört, über die Decke zu streichen. Er hebt die Hand, streckt den Arm seitwärts über seine Beine und legt mir die Hand auf den Kopf. Sie fühlt sich trocken an, und die Haut ist wie Schmirgelpapier auf meinem Haar, aber warm ist sie auch. Ich öffne die Tür und schaue nach dem Teller auf seinem Nachttisch. Zwei Scheiben Brot mit Käse, ein Apfel und ein kleines Messer. Ich lasse den Teller stehen und gehe hinaus.
Alle liegen im Bett, dann kann ich mich auch hinlegen. Der Mittag ist gerade vorbei. Mehr als sonst habe ich das Gefühl, hier nicht hinzugehören. Henk hätte hier wohnen sollen. Mit Riet und mit Kindern. Riet und Ada wären trotz des Altersunterschieds dicke Freundinnen gewesen, und Riets Kinder wären mit Teun und Ronald zur Schule gegangen. Nein, stimmt nicht, ihre Enkel. Ich hätte ein Onkel sein sollen. Henk hätte zu dem jungen Milchfahrer in herzlichem Ton gesagt, daß es ihm leid tue, ihn hier nicht mehr zu sehen, und er hätte ihm Glück gewünscht, ihm vielleicht sogar auf die Schulter geklopft. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich mich. Manchmal schaue ich durch mich hindurch und sehe Henk, der mich dann meistens etwas merkwürdig anblickt. Wie wäre es gewesen, wenn wir vorhin zu zweit, als Doppelpack, bei Vater gestanden hätten? Würde er immer noch glauben, daß wir uns gegen ihn verschworen haben? Würden wir ihm – um ihn zu reizen – noch unschuldig ins Gesicht sehen können? Würde Henk für mich Partei ergreifen, oder würde er mich leise, aber deutlich einen Idioten nennen?Ich mache schon so lange alles mit halber Kraft. Ich habe schon so lange nur noch einen halben Leib. Nie mehr Schulter an Schulter, nie mehr Brust an Brust, nie mehr selbstverständlich zu zweit. Nachher werde ich melken. Morgen früh werde ich wieder melken. Und den Rest der Woche natürlich, und nächste Woche. Aber das genügt nicht mehr; ich glaube, ich kann mich nicht mehr unter den Kühen verstecken, um den Dingen einfach ihren Lauf zu lassen. Wie der letzte Idiot.
44
Seine Hände liegen neben ihm unter der Decke, ich kann seine Handgelenke nicht sehen. Der Nebel hat sich gelichtet, und ich habe das Kippfenster einen Spalt geöffnet. Es riecht nach Krankheit im neuen Zimmerchen, aber krank ist er schon seit ein oder zwei Tagen nicht mehr. Außerdem riecht es nach Zigarettenrauch. Er will nicht aufstehen. Der Brief, den er von seiner Mutter bekommen hat, liegt neben dem Bett. Der Brief, den ich von seiner Mutter bekommen habe, liegt unten auf dem Küchentisch.
Einmal habe ich den Kopfverband gewechselt und ihm die Maschenmütze wieder übergezogen. Beim zweiten Nachsehen (da lag er schon im Bett) habe ich festgestellt, daß die Wunde trocken war, und sie ohne Verband gelassen. Die Enden der blauen Fäden sind länger als seine Haare. »Sie haben’s auf meinen Kopf abgesehen«, sagte er düster. »Tiere.«
Jetzt frage ich mich, wann die Fäden gezogen werden müssen. Kann ich das selbst? Ich würde es gern selbst machen. Ich werde seinen Schädel mit einer Hand anmeine Brust drücken und ihm, ohne zu zittern, mit einer Pinzette die Fäden aus dem Kopf zupfen.
Ich höre den Milchwagen auf den Hof einbiegen. Der neue Milchfahrer ist eine
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