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Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still

Titel: Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gerbrand Bakker
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Außerdem glaube ich nicht mehr, daß er bei Dir gut aufgehoben ist, Du lügst und betrügst und bist deshalb kein gutes Vorbild für ihn. Und was war das mit der Krähe? Was ist das für ein lebensgefährliches Tier? Warum setzt Du meinen Sohn so einer Gefahr aus? Man wird ihn im Krankenhaus doch wohl richtig behandelt haben? Du bist ein verantwortungsloser Mensch.
    Ich werde Henk auch schreiben, daß er zu seiner Mutter zurückkommen soll, die ihn braucht.
    So geht es nicht weiter.
    Grüße
    Riet.
43
    Nebel. Das einzige, was ich sehe, sind die kahlen Äste der Esche. Leere Äste. Weiter weg ist nichts. Es ist immer ein bißchen feucht in Vaters Schlafzimmer. Ich kann mich nicht erinnern, daß es in diesem Zimmer klamm gewesen wäre, als ich noch hier schlief. Wir haben immer noch März; meinem Gefühl nach müßte es schon Mai oder sogar Juni sein. Vater empfindet das wohl auch so.
    »Ich will nicht mehr.«
    »Das hast du eben schon gesagt.«
    »Es dauert mir zu lange.«
    »Es ist noch nicht Frühling.«
    »Ich weiß. Deshalb.«
    Ich schaue die vollen Wände an, die Fotos, Sticklappen und Aquarellpilze. Machen die Menschen Fotos für später, wenn sie selbst nicht mehr sind? »Und nun?« frage ich. »Wie stellst du dir das vor?«
    »Ich werd nichts mehr essen.«
    »Was?«
    »Nichts mehr essen. Nur trinken.«
    »Aber. . .«
    »Ist das so schlimm?«
    »Wenn ich dir nichts mehr zu essen bringe . . .«
    »Bist du schuld an meinem Tod? Ach. Wenn du das nicht willst, kannst du mir ja Essen bringen. Dann esse ich es eben einfach nicht.« Er wirkt ziemlich munter, man könnte meinen, er macht einen Scherz. Vielleicht denkt er ja: Wenn mein Sohn Scherze machen kann, kann ich es auch.

    In den vergangenen Tagen habe ich immer wieder Henks Handgelenke angeschaut. Kräftige, breite Handgelenke hat er. Von rötlichen Härchen bedeckt. Als er das Telefongespräch mit seiner Mutter beendet hatte, war er mir hinterhergegangen. Er war einen Moment am Zaun stehengeblieben und hatte mich nicht gesehen, nur die Schafe, die nah zusammenstanden und alle in eine Richtung blickten. Das kam ihm komisch vor, sagte er später. Ich vermute jetzt, daß das der Augenblick war, in dem ich zum letzten Mal den Kopf aus dem Wasser heben konnte. Henk stieg noch rechtzeitig über den Zaun und lief gerade eben schnell genug, um bei mir zu sein, bevor ich ertrank. Er sah das Schaf im Graben liegen, und auf seiner Flanke einen schlaffen Arm. Erstieg selbst in den Graben, schob mühelos das Schaf von meiner Brust und schaffte es dank seiner kräftigen Handgelenke, mich aus dem Wasser zu ziehen. Meine Stiefel blieben im Schlamm zurück, da stehen sie immer noch. Er schleifte mich aufs Ufer. Als ich die Augen öffnete, sah ich ein Ohr, eine Hand und eine Narbe. Er küßt mich auf den Mund, dachte ich, und gleich darauf spürte ich, wie ein starker Luftstrom in meine Lungen drang, ein Gefühl, wie wenn ich ersticken würde. Die Luft fand keinen Ausweg, er hielt mir die Nase zu. Meine Kehle brachte einen Laut zustande, und Henks Kopf entfernte sich. Jetzt zog sich mein Zwerchfell zusammen, und schneller, als ich denken konnte, lag ich auf der Seite – auch dank seiner kräftigen Handgelenke – und erbrach einen Schwall körperwarmes Modderwasser. »Bleib erst noch so liegen«, sagte Henk. Ich gehorchte. Ich war ziemlich erschrocken und heilfroh, statt Wasser Luft einzuatmen. Kurz danach spritzte mir Wasser von einem vorbeischwankenden Wollballen ins Gesicht. Auch das Schaf hatte er aus dem Graben heben können.

    Jetzt liegt er im Bett. Er ist krank geworden, das sagt er jedenfalls. Wenn ich in seinem Zimmer bin, sehe ich seine Handgelenke vor einem Hintergrund aus afrikanischen Tieren. Ich selbst hatte mich im Laufe des Tages noch ein paarmal übergeben müssen, aber das war auch alles.
    »Wie geht es Henk?« fragt Vater.
    »Gut«, sage ich. »Besser.« Immer noch habe ich Morastgeschmack im Mund. Als würde Erde zwischen meinen Zähnen knirschen. Ich kann mir gut vorstellen, daß Tod nach Morast schmeckt. Ich starre die Esche an.
    »Du wolltest mir noch sagen, warum ich dir zuwider bin und was ich getan habe.«
    »Ja«, sage ich.
    »Warum du Ada sagst, ich wäre senil, und warum du nicht den Arzt kommen läßt.«
    »Ja«, sage ich.
    »Ich versteh schon.«
    »Wie meinst du das?«
    »Der erste Schritt war, daß du mich nach oben geschafft hast. Du willst alle von mir fernhalten.«
    Ich sage nichts mehr und starre weiter aus dem Fenster.
    »Am Anfang hast

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