Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
steigt, gebe ich ihm fünfzig Euro in Zehnern. Seine Jacke steckt in einem Plastikbeutel, der am Lenker baumelt. Er fährt durchs Scheunentor und dann in einer weiten Kurve auf die Straße zu. Ich gehe zum Hühnerhaus und sammle in aller Ruhe vier Eier ein. Ich bringe sie ins Haus, stecke sie in einen leeren Eierkarton und stelle ihn neben den Herd. Dann ziehe ich meinen Overall aus, lege mich aufs Sofa und schließe die Augen. Es dauert noch einige Zeit, bis er hier ist.
An diesem Nachmittag, wir haben den 16. April, fährt hier ein Junge in einem Kanu durch. Das kommt nicht oft vor – so früh im Jahr schon gar nicht –, weil die offiziellen Kanurouten nicht an meinem Hof vorbeiführen. Er hat den Oberkörper entblößt, es ist ungewöhnlich warm für die Jahreszeit. Ich stehe an der Seite des Wohnhauses, der Nordseite, noch ungesehen. Weil der Junge allein ist, spricht er nicht. Er macht keine Bemerkung über meinen Hof, die Bäume oder meine beiden Esel. Eine Nebelkrähe sitzt auf einem Ast der krummen Esche. Die Krähe ist mit der Pflege ihres Gefieders beschäftigt und zieht ab und zu ihren großen Schnabel unter einem der Flügel heraus, um zu sehen, wie das Kanu vorankommt. Das Paddel klatscht nicht zwischen den Gelben Teichrosen ins Wasser, im April gibt es keineGelben Teichrosen. Es gibt auch keine lärmenden Rotschenkel; zwei Austernfischer schreiten über die Weide hinter dem Kanal, sie suchen gemächlich nach Futter.
Der Junge ist rotblond, und seine Schultern sind sonnenverbrannt, er hat die Kraft der Frühjahrssonne unterschätzt. Er hat das Paddel vor sich aufs Boot gelegt, Wasser tropft herunter. Das Kanu gleitet langsam weiter. Ich kann nicht weg, und es gibt an der kahlen Nordseite des Wohnhauses nichts, womit ich mich beschäftigen könnte. Ich will auch nicht weg. Ich will hier stehen und gesehen werden.
Er sieht mich. Der Bug seines Kanus bleibt am Ufer hängen. Er schaut mich an, und er blickt zu den Fenstern in der Dachgaube hinauf. Er schaut die Nebelkrähe an, die Bäume, die den Hof begrenzen, er schaut sogar – wenn auch nur kurz – die beiden Esel an, die neugierig an den neuen Zaun entlang der Straße gekommen sind. Ich kann ihm nicht ansehen, ob er sich wundert, daß ich hier stehe. Er hebt nicht die Hand, ich tue es auch nicht. Vielleicht – und das wäre gut – sieht er alles, was er hier sieht, als alte, vergilbte Ansichtskarte, mit Gebäuden, Menschen, Tieren und Bäumen, deren Zeit für immer stehengeblieben ist, als ein Bild, das man kurz in der Hand hält und dann wieder weglegt. Als einen Ort, an dem er weiter nichts verloren hat.
Dann nimmt er das Paddel und stößt das Kanu vom Ufer ab. Kurz darauf biegt er nach rechts ab, in die Opperwoudervaart. Er muß die Karte genau studiert haben. Ich gehe zur Straße, um ihm hinterherzusehen. Die Opperwoudervaart mündet ins Groote Meer. Am Ende des Groote Meer fängt ein Graben an, dessen Namen ich nicht kenne, der aber bis zum Uitdammer Die führt. Hinter Uitdam ist das IJsselmeer.Er kommt in den Stall, als ich fast mit Melken fertig bin. Direkt vor dem Eingang bleibt er stehen. Er hat die Sonne im Rücken, ich sehe nur einen Umriß. Ich spüre das Gewicht meiner zwanzig Kühe, das Gewicht des Strohs oben auf dem Heuboden, der schweren Kehlbalken zwischen den vier Pfosten, der Dachziegel (von denen kein einziger schief hängt), der sorgfältig gekappten Weiden. Ich kann mich nur mühsam aufrecht halten.
»Du willst mich doch loswerden«, sagt er.
»Ja«, sage ich und lasse das Melkzeug auf den Boden gleiten.
»Scheiße.«
Wann kommen die Mauersegler? Oder sind sie schon da? Ich weiß es nicht. Ich habe kein Zeitgefühl mehr. Draußen ist Sommer.
52
»Es ist fast vorbei«, sagt Vater.
»Ja«, sage ich und denke an heute nachmittag.
Das Fenster steht weit offen.
Ich verbessere mich. »Ja?«
»Und ich hab nicht nur einen Frühling, sondern sogar einen Sommer.«
»Ißt du dein Ei noch?«
»Gleich. Ich will es erst noch ein Weilchen ansehen.«
Ich habe das Ei schon gepellt. Es liegt auf einem Kuchenteller, und neben dem Teller steht der Salzstreuer. Mücken tanzen vor dem offenen Fenster. Ich habe mich ans Fußende des Betts gesetzt. Er sagt zwar, daß er das Ei ansehen will, aber er sieht mich an. Das Blatt Papier liegt nicht mehr halb unter dem Nachttisch. Ich frage mich, wo das Gedicht geblieben ist.
»Meinst du, du kommst allein zurecht?« fragt er.
»Ich denke schon.«
»Du bist ein erwachsener Mann.«
»Ein
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