Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
Augen.
Welchen Henk meint er wohl? überlege ich. Hat er von seinem Sohn geträumt? »Nein, ich bin’s«, sage ich.
»Hast du geraucht?«
»Ja.«
Jetzt öffnet er die Augen und schaut mich an. »Du bist ein komischer Vogel«, sagt er leise.
»Ja.«
»Weißt du, woran ich immer denken muß?«
»Nein.«
»An unsere Fahrt über die Gouwzee damals. Weißt du noch?«
»Ja. Achtzig Zentimeter dickes Eis.«
»Ich wollte raus aufs IJsselmeer, aber ich hab es nicht gewagt. Stundenlang haben wir am Damm gestanden.«
»Na, stundenlang . . .«, antworte ich.
»So kam es mir vor.« Er macht die Augen wieder zu. Seine Arme liegen wie die Beine eines toten Kalbs neben seinem Leib. »Ich hab es nicht gewagt«, flüstert er. »Ich hab es nicht gewagt.«
Ich sage nichts, ich will nur zuhören.
»Und ihr habt wie ein Junge mitten auf dem Rücksitz gesessen.«
Ich stehe auf; er scheint wieder eingeschlafen zu sein, vielleicht träumt er von dem Polarwinter vor vierzig Jahren.
»Helmer?« sagt er, als ich an der Tür bin.
»Ja?«
»Ich möchte bei deiner Mutter und Henk begraben werden. Und laß erst hinterher eine Anzeige in die Zeitung setzen.«
»Bist du sicher? Du willst niemand dabeihaben?«
»Niemand«, sagt er.
»Gut«, sage ich.
»Und ich möchte ein Ei.«
»Was?«
»Ein hartgekochtes Ei.«
»Du hast wochenlang nichts gegessen. Das wird dein Tod.«
»Wenn ich lachen könnte, würd ich lachen. Ich hab Appetit auf ein Ei.«
»Ich bring dir nachher eins.«
Ich schließe die Tür und überquere den Flur.
Kann ich das machen? frage ich mich.
Wenn Vater tot ist, bin ich der einzige, der noch übrigist, denke ich, als meine Hand nach der Türklinke des neuen Zimmerchens greift.
Also los, denke ich, als ich die Tür öffne.
51
Das Kippfenster geht nach Norden, deshalb ist das Licht im neuen Zimmerchen meistens etwas seltsam. Nur im Juni und Juli kommt Sonne herein, spät abends. Henk weiß noch nicht, daß draußen Sommer ist, noch mehr Sommer als gestern. Er weiß auch noch nicht, was er heute nachmittag tun wird. Die Decke mit den dunkelblauen Buchstaben und Ziffern hat er bis zu den Ohren hochgezogen.
»Henk?«
»Stiesel.«
»Bitte?«
»Stiesel, hab ich gesagt.«
»Na, na.«
»Etwa nicht?«
»Ich weiß nicht.«
Die Decke rutscht herunter. Seine nackte Brust kommt heraus, ein Arm bewegt sich Richtung Nachttisch. Der Streifen Zeitungspapier, der bisher als Lesezeichen gedient hat, liegt auf dem Umschlag des Buchs.
»Deine Zigaretten liegen unten«, sage ich.
»Scheiße.« Er verschränkt die Arme und starrt die Wand gegenüber an. »Was willst du eigentlich hier?«
»Du hast heut morgen das Jungvieh nicht versorgt.«
»Ja und?«
»Ich hab’s selbst gemacht.«
»Selber schuld.«
»Sonst will ich nichts.«
»Dann geh.«
»Gut.« Ich drehe mich um und gehe hinaus. An die Zigaretten hatte ich nicht gedacht, ich kann in Ruhe unten abwarten.
Kurz vor zwölf kommt er die Treppe herunter, fertig angezogen. Er geht direkt ins Wohnzimmer und zündet sich eine Zigarette an. Dann kommt er in die Küche, füllt den Wasserbehälter der Kaffeemaschine, schaufelt Pulver in den Filter und stellt sich ans Seitenfenster. »Was ist das bloß für Wetter?« sagt er nach einer Weile. Das Wasser läuft gurgelnd durch die Maschine.
»Schönes Wetter«, sage ich.
»Wie im Sommer.«
»Und du bist noch nicht draußen gewesen.«
Er bleibt am Fenster stehen, bis der Kaffee durchgelaufen ist. Dann gießt er sich einen Becher voll und setzt sich an den Küchentisch. Er fragt mich nicht, ob ich auch Kaffee möchte.
»Willst du nichts essen?«
»Später.«
»Hast du irgendwelche Pläne für heute nachmittag?«
Er schaut mich ungläubig an. »Pläne?«
»Ja.«
»Nein.«
»In Broek gibt es einen kleinen Kanuverleih, der sich nicht an die offiziellen Zeiten hält. Wenn du dich auf mich berufst, gibt man dir sofort ein Kanu. Sie haben auch Karten. Waterland-Oost.«
»Ein Kanu.« Er zündet sich eine neue Zigarette an und schaut durchs Vorderfenster Richtung Kanal.
»So schönes Wetter muß man ausnutzen.«
»Wie komm ich da hin?«
»Am Ende der Straße rechts, dann immer geradeaus,und in Broek ist es das siebte Haus auf der linken Seite. Du kannst ja eine Route nehmen, die hier vorbeiführt.«
»Willst du mich loswerden?«
»Wieso? Du kommst nie hier raus. Bisher bist du nur in Monnickendam gewesen.«
»Du bleibst ein Stiesel.«
»Schon möglich. Vielleicht bin ich das.«
Kurz bevor er aufs Rad
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