Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
Zimmerchens hinter sich zu. Er denkt nicht an Vater, er denkt nicht an mich. Er ist jung und denkt nur an sich selbst.
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Riet, Du hast recht: Ich bin ein Lügner und Betrüger. Ich habe gesagt, daß Vater tot wäre, weil ich dachte, Du würdest sonst nicht kommen. Und ich wollte, daß Du kommst. Ich wollte Dich sehen, und ich wollte mit Dir über Henk sprechen. Ich war neugierig auf Dich. So wie Du – nehme ich an – auf mich neugierig warst. Deshalb. Aber Du hast mich nichts gefragt, Du hast nur von Dir selbst und Deinem Verhältnis zu Henk gesprochen. Das tat weh. Damals hatte ich mich vergessen gefühlt, und nun fühlte ich mich noch einmal vergessen.
Deine Motive für den Wunsch, Henk in meine Obhut zu geben, könnte ich auch mit einem Fragezeichen versehen. Jeder will etwas, aber was Du willst, ist mir nicht ganz klar. Hast Du gedacht, er bräuchte eine Vaterfigur? Ich kann vieles sein, wenn es nötig ist, aber ein Vater bin ich nicht. Auch kein Onkel. Ich bin ein Sohn. Ich bin ein Bruder. Aber darüber will ich weiter nichts sagen. Ich glaube, Henks »Lehrzeit« ist vorbei; ich meine, nein, ich bin mir sicher, daß es für ihn Zeit wird, wieder nach Brabant zurückzukehren. Zu Dir, vielleicht aber auch irgendwohin, wo er selbständig werden kann. Er ist jetzt zweieinhalb Monate hier, und ich glaube, daß er einiges gelernt hat, und damit meine ich nicht nur das Versorgen von Vieh oder andere Tätigkeiten, die auf dem Hof oder drumherum anfallen. Er kommt gut mit Vater aus, in der letzten Zeit unterhalten sie sich regelmäßig, aber davon willst du vielleicht gar nichts hören. Eins steht jedenfalls fest: Er muß hier weg.
Meiner Ansicht nach gibt es an ihm nicht sehr viel, was nicht in Ordnung wäre. Und ich glaube, wenn es soetwas gibt, wird er schon selbst auf den richtigen Weg finden. Im Lauf der Zeit. Ich kann nichts weiter für ihn tun. Du bist seine Mutter. Du bist für ihn verantwortlich. Ich schlage vor, daß Du ihn abholst. Ich kann schlecht weg, wegen der Kühe und der Schafe. Hat nicht eine Deiner Töchter ein Auto? Ich rufe Dich noch an, damit wir Näheres besprechen können. Es ist sehr gut möglich, daß Vater – und jetzt lüge ich nicht – dann wirklich nicht mehr lebt. Er will nicht mehr und hat schon seit einiger Zeit nichts gegessen.
Grüße
Helmer van Wonderen.
Über bestimmte Dinge wundere ich mich allmählich nicht mehr. Henk ist nicht aufgestanden, deshalb habe ich heute morgen erst nach neun am Küchentisch gesessen. Im Schafstall ist der Stand jetzt dreißig auf neunzehn. Noch ein Schaf. Nach dem Essen habe ich Kaffee gemacht und mich an den Schreibtisch gesetzt, um Riet einen Brief zu schreiben. Ich habe ihn mit meinem vollen Namen unterschrieben. Vielleicht, um ihr klarzumachen, daß es mir ernst ist. Der Brief steckt schon in einem frankierten Umschlag, ich werde ihn im Lauf des Tages einwerfen.
Ich sitze im Wohnzimmer auf dem Sofa. Mutter beobachtet vom Kaminsims aus, wie ich eine Zigarette rauche. Verführerisch, hochmütig und wachsam hatte sie schon geschaut, jetzt schaut sie natürlich auch mißbilligend. Die Sonne scheint ins Zimmer; es sieht schön aus, wie das Licht zwischen den schmalen Lamellen hereinfällt. Henk hat gestern abend sein Päckchen neben dem Sofa liegenlassen. Ich bin lächerlich mit der brennenden Zigarette in der Hand, ich sehe es im Spiegel. EineFilterzigarette ist schlank und elegant, meine Hand ist schwer und klobig. Ich kann die Zigarette halten, wie ich will, der Rauch zieht immer zu meinem linken Auge, es tränt schon. Mein Blick wandert von meinem Spiegelbild noch einmal zu Mutter. Es ist unmöglich, ich weiß: Ein Foto ist ein Foto, und Mutter ist tot, trotzdem kommt es mir so vor, als ob jetzt auch noch ein spöttisches Lächeln über ihr Gesicht geht. Vielleicht bin ich eher jemand für Selbstgedrehte.
Vater schläft. Ohne zu schnarchen. Seine Brust, oder was davon noch übrig ist, hebt und senkt sich ganz leicht. Ich muß genau hinschauen, sonst würde ich es nicht sehen. Eigentlich wäre es höchste Zeit, ihn zu duschen, aber das wage ich nicht mehr. Ich möchte nicht, daß er wie Mutter im Badezimmer stirbt. Beide Eltern im Badezimmer gestorben – nein. Auf dem Nachttisch steht noch das Essen, das Henk ihm gestern abend gebracht hat, unberührt. Ein paar trockene Kartoffeln, Brechbohnen und eine Frikadelle. Neben dem Teller ein Glas mit Wasser, von dem er kaum getrunken hat. Er bewegt sich.
»Henk?« fragt er, mit geschlossenen
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