Oben ist es still - Bakker, G: Oben ist es still
halber erwachsener Mann.«
Jetzt betrachtet er das Ei, als hätte er ein Marzipanteilchen vor sich. »Schlößchen« heißen die beim Bäcker in Monnickendam. Früher ist er samstags manchmal extra in die Stadt gefahren, um vier davon zu holen. Vielleicht hat er ein paarmal auch fünf gekauft. Später drei, und als Mutter tot war, ganz selten noch zwei. Ich habe ihm nie gesagt, daß Schlößchen nicht zu meinen Lieblingsteilchen gehören.
»Ich war zweite Wahl«, sage ich. »Das war das Schlimmste. Immer das Gefühl zu haben, daß man es nicht recht machen kann.«
»Ich hab auch nur getan, was ich konnte«, sagt er.
»Ich nicht?«
»Aber ja. Du auch.« Es ist viel mehr Leben in ihm als heute morgen.
»Wo ist Henk?«
»Ich weiß es nicht. Draußen, glaub ich.«
Es gibt etwas, das ich ihn fragen will. Es gibt etwas, wofür ich – trotz allem – seine Zustimmung haben möchte. »Soll ich . . .«, fange ich an. Dann stehe ich auf, knie mich hin und stecke den Kopf unters Bett. Da liegt das Gedicht, von Staubflocken bedeckt. Ich richte mich auf und setze mich wieder aufs Bett, nah bei seinen Füßen. Er starrt immer noch das Ei an, jetzt ein bißchen ängstlich.
»Soll ich den Laden zumachen, Vater?«
»Mach nur, Junge, mach nur.« Er nimmt den Kuchenteller mit seiner klauenartigen Hand vom Nachttisch und stellt ihn sich auf den Schoß. Das Ei rollt auf die Decke. »Tot ist tot«, sagt er. »Weg ist weg, und dannweiß ich von nichts mehr.« Er greift nach dem Ei und legt es wieder richtig auf den Teller. »Das mußt du selbst wissen.«
Ich stehe auf. Zusehen, wie er das Ei ißt, kann ich nicht.
Er hat schon seit Wochen die Nebelkrähe nicht mehr erwähnt. Als ob er den Vogel vergessen hätte.
Henk ist nicht draußen. Henk steht in der Küche, mit dem Hintern an die Anrichte gelehnt. In der rechten Hand hält er einen eilig aufgerissenen Briefumschlag, in der linken meinen Brief an seine Mutter, den ich eigentlich vor der heutigen Leerung hätte einwerfen müssen. Er hat sich schon verändert; er ist noch derselbe und trotzdem anders, es ist so, wie wenn einem zu Hause alles fremd vorkommt, nachdem man irgendwo gewesen ist, wo man normalerweise nicht hinkommt. Nach der Beerdigung des alten Milchfahrers war mir der Hof verändert vorgekommen, nach dem Eislaufen auf dem Groote Meer, und nachdem ich Riet von der Fähre abgeholt hatte. Jetzt fällt mir ein, daß ich genau das gleiche gedacht habe, als ich Henk abgeholt hatte und mit ihm nach Hause kam. Woran es liegt, weiß ich immer noch nicht. Vielleicht daran, daß man selbst älter geworden ist, wenn auch nur um ein paar Stunden (bis dahin war ich schon einmal gekommen), während zu Hause alles stehengeblieben ist, außer den Uhrzeigern. Dann dauert es eine Weile, bis die Zeit, die man zu Hause versäumt hat, abgearbeitet ist.
Ich werde nicht sagen, daß es sich nicht gehört, anderer Leute Post zu öffnen. Auch seine Stirn und seine Nase sind verbrannt, sehe ich jetzt. Er dreht sich um, und im Umdrehen zerknüllt er den Brief. Ich erinnere mich an diese Bewegung, aber anders als Vater vor baldvierzig Jahren hat Henk Feuer bei sich. Er zieht das Feuerzeug aus der Gesäßtasche und hält das Papier in die Flamme. Kurz bevor er sich die Finger versengt, läßt er los. Der Brief verbrennt in der Spüle.
»Was war das nun für ein Brief?« fragt Henk. »Glaubst du, meine Mutter hätte irgendwas davon verstanden?«
»Den letzten Teil doch bestimmt.«
»Der Brief ist überflüssig«, sagt er. »Sei froh, daß ich ihn verbrannt habe.«
»Wieso überflüssig?«
Er schaut mich an und zieht die Brauen hoch. Dann verläßt er ruhig die Küche. Ich höre ihn die Treppe hinaufsteigen und in Vaters Zimmer gehen. Sieht er ihm jetzt dabei zu, wie er sein Ei ißt?
Ich sehe mich in der Küche um. Die summende Uhr zeigt zwanzig nach acht. Ich habe das Ei für Vater gekocht, aber ich habe noch nichts gegessen. Ich weiß nicht, ob Henk etwas gegessen hat. Meinem Gefühl nach kann die Sonne eigentlich noch nicht untergegangen sein, aber ich muß schon Licht machen. Sommer im April.
Bevor ich ins Bett gehe, schaue ich noch einmal nach Vater. Ich mache die Lampe nicht an, bei dem Licht aus dem Flur kann ich gerade noch sehen, daß der Kuchenteller leer ist. Vater liegt auf dem Rücken, und ich höre, daß Luft durch seine Nase eingezogen und ausgestoßen wird. Die Vorhänge sind offen. Ich gehe auf Zehenspitzen zum Fenster und ziehe sie zu.
53
Die Kühe erschrecken kaum
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